Gedanken

Die Mitarbeitenden der Neuen Marienkirchengemeinde möchten hier ihre Gedanken und Worte mit Ihnen teilen. 

Viel Freude beim Lesen und inspirieren lassen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juni 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Jörg, ein Familienvater, feiert seinen 40. Geburtstag. Es geht mir bei dieser Zahl nicht um den doch etwas fragwürdigen Schwabenspruch zu diesem Datum. Mich interessieren die Geschenke, die von den anderen vier Familienmitgliedern überreicht werden. Emma, das Grundschulkind, kommt mit einem selbst gepflückten Wiesenstrauß und trägt ein auswendig gelerntes Gedicht vor. Danach hält Frieder, der gerade sein Abitur hinter sich hat, eine kurze Rede. Darin sagt er, wie wichtig der Papa für ihn und die ganze Familie ist. Tim, der Mittlere, der den Papa besonders gern mag, übergibt seinem Vater einen selbst gebastelten Stiftehalter, bringt aber sonst kaum ein Wort heraus; er ist schon immer etwas „nahe am Wasser gebaut“. Und Margret, seine Frau, schaut ihren Mann einfach liebevoll an, nimmt ihn lange in den Arm und gibt ihm einen Kuss.

Jetzt lassen wir mal die ganze Familie den Geburtstag feiern – und ich sage Ihnen, warum ich Ihnen das erzählt habe: Die vier Geschenke der Familienmitglieder sind, auf einer anderen Ebene, wie vier Weisen des Betens zu Gott, dem Vater. Ich füge hier gleich hinzu, dass zu Gott auch wie zu einer Mutter gebetet werden kann (Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, heißt es in Jesaja 66,13) und auch wie zu einem Freund  können wir beten (Mose unterhielt sich mit Gott von Angesicht zu Angesicht, wie man unter Freunden redet, nachzulesen in 2. Mose 33,11).

Aber nun zu vier Möglichkeiten des Betens, vier von vielen.

Die erste nenne ich das traditionelle, mündliche Beten. Wie bei Emmas Blumenstrauß und Gedicht spielen dabei meist Gesten wie das Händefalten oder Händeöffnen und gelernte bzw. vorgegebene Gebete eine Rolle. So beten wir z.B. Psalmen im Gottesdienst oder sprechen ein immer gleiches Tischgebet zuhause.

Bei der zweiten Art des Betens sind eigene Gedanken zunächst einmal wichtig. Wie Frieder sich für seine Rede hingesetzt und über seinen Papa nachgedacht hat, so kann ein Gebet aus der Besinnung über einen Bibeltext zustande kommen, genauso auch beim Betrachten religiöser Kunst oder beim Hören geistlicher Musik. Ich nenne es meditatives Beten.

Auch Tim, dem die Sprache versagt, der stattdessen eine Träne verdrückt, weist auf eine Weise des Betens hin. Ich nenne sie das affektive Beten. Es ist von innerem Berührtsein, von Empfindungen und Gefühlen geprägt, bis hin zum Weinen. Die Orte für solches Beten sind vielfältig. Das kann der Kirchenraum sein, es kann in einem Konzert geschehen, bei einem überwältigenden Natureindruck oder im „stillen Kämmerlein“.

Eine besonders schöne Weise des Betens können wir aus dem Geschenk ablesen, das Jörgs Frau Margret hat. Sie ist einfach da, wendet sich Jörg zu und nimmt ihn eine Weile in den Arm. Alles, was sie tut, kommt aus ihrer Herzmitte. Da braucht es keine Worte. Das dem entsprechende Beten hat Teresa von Avila einmal so beschrieben: Beten ist Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt. Teresa nennt es das innere Beten, andere nennen es das einfache Beten. Einfach im Sinne von leicht ist es freilich nicht immer. Wie in einer Freundschaft unter Menschen braucht es zum inneren Beten bestimmte Orte und Zeiten, um sich treffen zu können, um da zu sein, um sich einander zuwenden zu können, um beieinander zu verweilen. So ist es auch, wenn wir mit Gott befreundet sind.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juni 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Der weltberühmte Geiger Joshua Bell stellte sich vor einigen Jahren mit seiner Violine in eine stark belebte U-Bahn-Station in Washington DC, morgens, kurz vor 8 Uhr, und in ganz normaler Alltagskleidung. Er spielte Stücke von Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und anderen. Für eine Dreiviertelstunde erklang wunderschöne Musik, gespielt auf einer Stradivari, einem Instrument mit einem geschätzten Wert von über 3 Millionen Dollar. Solange Joshua Bell spielte, gingen 1097 Menschen an ihm vorbei. Davon schien ihn nur ein einziger erkannt zu haben, der dann auch immerhin 6 Minuten stehen blieb und zuhörte. Alle anderen eilten mehr oder weniger schnell an ihm vorüber. Die ganze Aktion war ein Experiment der Zeitung „Washington Post“ mit dem Ergebnis, dass (1.) so gut wie niemand den Star-Geiger erkannte und dass (2.) sich niemand von der virtuosen Schönheit der Musik zu längerem Verweilen motivieren ließ.

An dieser Stelle mache ich einen Gedankensprung und frage: Ist es mit Gott in unserer Welt so ähnlich? Gott ist da, aber wir vielleicht nicht. Wir gehen eilig, mit uns selbst beschäftigt, an ihm vorbei. Dann bemerken wir gar nicht, mit welcher Schönheit Gott uns überraschen will? 

Zur Entlastung der Vorübereilenden damals in der U-Bahn-Station kann man natürlich anführen, dass es um diese Tageszeit alle eilig hatten, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Tag für Tag der gewohnte Ablauf, Abweichungen werden ausgeblendet. Routinen im Alltag geben schließlich einen gesicherten Rahmen vor und erzeugen automatisierte Verhaltensweisen. Diese erfordern wenig Anstrengung und versetzen das Gehirn in einen energiesparenden Stand-by-Modus. Außerdem konnten sie Joshua Bell vielleicht auch deshalb nicht erkennen, weil sie ihn zu dieser Zeit an diesem Ort nicht vermuteten. Alles richtig. Aber die Menschen verpassten eben doch ein Gratis-Konzert eines weltberühmten Musikers, weil sie keine Achtsamkeit für die Situation hatten und so die Chance ausließen, sich überraschen zu lassen.

Und wieder der Gedankensprung: Bemerken wir Gott in unserem gewohnten Alltag so selten, weil wir ihn dort nicht vermuten? Werden wir in unseren alltäglichen Abläufen blind für Gott? „Gott ist gegenwärtig" – so sagt es Gerhard Tersteegen in einem Lied. Gott ist da, freilich anders als der U-Bahn-Geiger. Gott ist verborgen da, wir können kein Foto von ihm machen. Aber Gott ist nicht unauffindbar.

Jesus sagt, wir können ihm in den geringsten Schwestern und Brüdern begegnen – in den anderen auch. In der helfenden und segnenden Zuwendung zu ihnen wenden wir uns Gott zu (Mt 25,40).

Der Apostel Paulus schreibt, dass wir Gott auch aus seinen geschaffenen Werken her-vorsehen können, insbesondere aus der Schönheit der Schöpfung (Röm 1,20). Voraus-setzung dafür ist gewiss, dass wir nicht unaufmerksam an Naturschönheiten vorbeieilen, wie damals die Menschen an der virtuosen Violinmusik, sondern innehalten. Mal wieder eine Pusteblume vorsichtig verblasen, einen Regenbogen länger betrachten, den Wolken nachschauen, auf einer Bank verweilen und den Blick in die Landschaft schweifen lassen. Da sein.

Und als Drittes nenne ich Texte, biblische und andere, ich nenne Musik und Bildende Kunst, über die wir mit Gott in Verbindung kommen können. 

Nehmen wir uns die Zeit dafür? – Nehmen wir uns Zeit dafür! Haben wir den Mut, unsere gewohnten Alltagsroutinen gelegentlich zu unterbrechen: vielleicht 10 Minuten am Tag für einen Psalm, ein eigenes Gebet, einen Abschnitt der Bibel, ein Lied. Eine Stunde von den 168 Stunden einer Woche, um z.B. einen Gottesdienst zu besuchen.

Gott ist da, er will uns beschenken mit sich und mit der Schönheit seiner Worte und Werke. Und alles ist gratis.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] hat sich das deutsche Volk […] dieses Grundgesetz gegeben“, so heißt es in der Präambel unserer Verfassung, die am 23. Mai 1949 in Kraft gesetzt wurde und also ihren 75. Geburtstag feiert. Die Formulierung „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ heißt natürlich nicht, dass Deutschland ein Gottesstaat ist oder dass Einzelne zum Christsein verpflichtet sind. Ja, die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren großenteils Christinnen und Christen und haben sich den christlichen Gott vorgestellt. Gemeint ist aber ein offener Gottesbegriff, der sich nicht explizit auf ein bestimmtes Gottesbild bezieht. Es ist eine Art Platzhalter für das Höhere, in das z.B. auch Juden und Muslime ihren Gottesbegriff einlesen können. Auch der nicht glaubende Mensch kann sein Gewissen im Wort „Gott“ an eine höhere Idee binden, die sein Handeln leitet. 

1949 war die Naziherrschaft noch nicht lange vorbei und damit die bittere Erfahrung präsent, dass sich ein Staat zu einem quasi gottgleichen Konstrukt aufspielen kann, mit all den schrecklichen Folgen, die wir kennen. Davor wollte man die neu entstandene Bundesrepublik Deutschland zukünftig bewahren. Vor allem die „Verantwortung vor Gott“ sollte eine Instanz deutlich machen, die über alle rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Belange hinausgeht. Dieser sogenannte Gottesbezug lässt sich einerseits als einen Akt der Demut für den Staat und alle seine Bürgerinnen und Bürger verstehen, andererseits ist der Gottesbezug eine Klarstellung der Prioritäten. Wolfgang Huber, früherer Ratsvorsitzender der EKD und noch früher Vikar in Betzingen, schreibt zur Verantwortung vor Gott: „Die Pflicht zur Rechtsbefolgung, so ist daraus zu lernen, ist niemals absolut. Politische Loyalität gilt niemals unumschränkt. Der Glaube weiß: Der Gehorsam gegen Obrigkeit und Gesetz findet seine Grenze dort, wo wir Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen. Er findet diese Grenze darin, dass der Mensch nicht der letzte Maßstab für den Menschen ist.“ 

An dieser Stelle bin ich sehr froh und dankbar, dass wir mit dem Grundgesetz eine kluge Verfassung haben, eine gute Orientierung zum Gestalten unserer Demokratie, auch eine Hilfe, diese gegen Gefahren von außen und innen zu schützen. Dabei auf Gott zu hören, ihm gegebenenfalls mehr zu gehorchen als den Menschen, ist für Christinnen und Christen freilich immer eine gute Idee. Allerdings, Gehorchen gehört nicht zu den Lieblingstätigkeiten der heute Lebenden. Aber im Wort „Ge-Horchen“ steckt das Wort „Horchen“, was ich als ein aufmerksames Zugewandtsein beschreiben möchte.

Gott aufmerksam zugewandt sein, wie geht das? Ich nenne 4 Punkte. 

(1) Zunächst einmal braucht es Stille, vielleicht auch die Stille eines Kirchenraums. Nur wer still ist, kann horchen.

(2) Wir haben die Texte und Stimmen der Bibel, Gottes Wort im Menschenwort, die Zehn Gebote, die Bergpredigt Jesu, die Briefe an erste christliche Gemeinden und noch so viel mehr. 

(3) Wir können geistlicher Musik nachhorchen und dabei unser Gemüt stimmen lassen.

Und (4) wir haben im Glauben an Jesus Christus eine Freundschaft mit Gott. „Ihr seid meine Freunde“, sagt Jesus zu denen, die mit ihm unterwegs sind. 

Die Beziehung zu Jesus ist von allem wohl das Wichtigste und bringt uns der Verantwortung vor Gott nahe. Verantwortung ist schließlich ein Beziehungswort. Haben wir aufmerksam zugewandt gehorcht, sollen wir darauf antworten, das Gehörte ver-antworten. Am besten wohl so (Mk 12, 30f): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Oder, wie der jüdische Philosoph Martin Buber übersetzt: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Pfingsten 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Ich denke an eine alte Dame – Sie mögen bald erraten, wer sie ist. Es ist ihr manchmal so schrecklich nachdenklich zumute. Dann zieht sie ihr Schwarzseidenes an und kramt gerührt über sich selber in alten Briefen, Papieren und Urkunden. Dabei stößt sie auf ihre Geburtsurkunde. An Pfingsten hat sie Geburtstag. Sie liest, wie sie angefangen hat und wie sie gedacht war. Es ist in jener Urkunde von wilden Sachen die Rede: vom Sturm des Geistes, vom Feuer des Anfangs und vom Mut der ersten Zeugen. Und sie erschrickt, wenn sie noch des Erschreckens fähig ist. Denn in dieser Geburtsurkunde liest sie von einer alten und lange vergangenen Schönheit. Betulich und langsam, wie sie geworden ist, liest sie, dass sie einmal als junger, wilder Wein gedacht war. Sie liest, dass sie einmal so voll des Geistes war, dass man sie für betrunken gehalten hat – schon um 9:00 Uhr morgens.“ (aus: Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky, Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit, Predigten, Kreuz Verlag Stuttgart 2004, S. 172)

Mit diesen Sätzen begann Fulbert Steffensky einmal eine Pfingstpredigt. Natürlich haben Sie längst gemerkt, von wem er spricht: Ja, es ist die Kirche; sie hat an Pfingsten Geburtstag. Wären wir in der Marienkirche versammelt, würde ich uns alle in einen großen Spiegel schauen lassen, damit wir sehen: Wir alle sind Kirche und damit Empfängerinnen und Empfänger der Geburtstagsgeschenke des Heiligen Geistes. Zwar meint Bertolt Brecht: „Pfingsten sind die Geschenke am geringsten.“ Doch damit hat er ganz und gar Unrecht. An Pfingsten gibt’s Geschenke vom Heiligen Geist und der schenkt nicht gering, sondern reichlich. Als die alte Dame Kirche noch ein junges Mädchen war, hat ihr der Apostel Paulus diese Geschenke immer wieder aufgezeigt, nachzulesen in den Briefen an die Gemeinden in Ephesus, Rom und Korinth (Epheser 4; Römer 12; 1 Korinther 12).

Dazu gehören: 

Unterscheidung – damit wir im Dickicht der Meinungen und Fakten einen gangbaren Weg aufzeigen können; 

Ermutigung – damit wir mit uns selbst und mit dieser komplizierten Welt die Geduld behalten und anderen die Zuversicht stärken; 

Rat – damit uns in schwierigen Situationen und verwirrenden Konflikten geeignete Lösungsideen einfallen; 

Stärke – damit wir unseren Überzeugungen aus guten Gründen treu bleiben oder sie gegebenenfalls korrigieren können; 

Erkenntnis – damit wir herausfinden, was dem Leben dient; 

Frömmigkeit – damit wir mit Gott in stetiger Verbindung bleiben; 

Ehrfurcht vor Gott – damit wir die Menschenfurcht verlieren und Gottvertrauen gewinnen. 

Paulus gibt an einer Stelle noch eine Art Gebrauchsanweisung dazu (1 Kor 12,4-7; Basisbibel): „Es gibt zwar verschiedene Gaben, aber es ist immer derselbe Geist. Es gibt verschiedene Aufgaben, aber es ist immer derselbe Herr. Es gibt verschiedene Kräfte, aber es ist immer derselbe Gott. Er bewirkt das alles in allen Menschen. Das Wirken des Geistes zeigt sich bei jedem auf eine andere Weise. Es geht aber immer um den Nutzen für alle.“

Ach, wie gut ist es, solche Texte zu haben! Auch, wenn wir ihrem Anspruch nicht immer gerecht werden. 

Dazu zum Schluss ein paar weitere Sätze aus der eingangs angesprochenen Predigt von Fulbert Steffensky: „Die Texte lehren uns wünschen. Ein Mensch wird nicht nur schön durch alles, was ihm gelingt. Es machen ihn auch seine Wünsche schön. Es macht ihn auch sein Durst nach dem ganzen Leben und nach dem Geist schön – nach dem Geist in geistlosen Zeiten. […] Darum ist die Kirche eine schöne Frau. Und vielleicht wird der Geist sie ja noch einmal erwischen, dass die draußen denken: Die Alte ist schon wieder besoffen.“ (aus: Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky, Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit, Predigten, Kreuz Verlag Stuttgart 2004, S. 175f)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - April 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


123456789 – diese ’einfallsreiche’ Ziffernfolge gehört immer noch zu den meist gebrauchten und meist gehackten Passwörtern der Deutschen bei der Arbeit am Computer.

Ein Passwort ist laut Duden eine Zeichenfolge, die den Gebrauch einer Sache, den Zugang zu ihr ermöglicht und sie gegen den Missbrauch durch Außenstehende schützen soll. Es geht bei einem Passwort also darum, 1. Persönliches vor Fremdzugriffen zu schützen und 2. Zugang zu Wichtigem zu ermöglichen.

Von einem Passwort schreibt auch der kath. Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini und erzählt von einem Traum, in dem er Folgendes erfahren haben will: Wenn der Mensch geboren wird, wird ihm ein Wort mitgegeben […]. Das wird hineingesprochen in sein Wesen, und es ist wie das Passwort zu allem, was dann geschieht. Es ist Kraft und Schwäche zugleich. Es ist Auftrag und Verheißung. Es ist Schutz und Gefährdung. Alles, was dann im Gang der Jahre geschieht, ist Auswirkung dieses Wortes, ist Erläuterung und Erfüllung. (Romano Guardini, in: Berichte über mein Leben - Autobiographische Aufzeichnungen. Aus dem Nachlass. Hrsg. Franz Henrich, Patmos Verlag Düsseldorf 1984, S. 20)

Obwohl nicht ganz klar ist, was Guardini damit meint, könnte man an Worte denken, die einem Menschen in besonderen Situationen zugesprochen werden. An einen Taufspruch bei der Kindertaufe zum Beispiel. „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1) Der erste Teil ist eine Schutzzusage – ich brauche mich nicht zu fürchten –, der zweite ermöglicht mir den Zugang zu Gott – er kennt mich, ich gehöre zu ihm. Dieser Taufspruch erfüllt damit die Kriterien eines Passworts. Er ist Auftrag und Verheißung und kann tatsächlich Wirkung in einem ganzen Menschenleben entfalten, wie Romano Guardini es andeutet. So ein Taufspruch müsste nur immer wieder erinnert werden, am Tauftag oder an besonderen Festtagen. Warum nicht jeden Sonntag?! Dann kann ein Taufspruch zu einem Glaubenspasswort werden.

Eines meiner Glaubenspasswörter ist mein Konfirmationsspruch, Ps 103,2: „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Wenn ich bedenke und mir bewusst halte, was Gott mir Gutes getan hat, dann verlockt mich das zur Dank-barkeit. Dankbarkeit ist die Wachsamkeit der Seele gegen die Kraft der Zerstörung. (Gabriel Marcel) Das Psalmwort – sofern ich es befolge – ist also ein gutes Passwort, indem es meine Seele schützt. Aber ermöglicht es mir auch einen Zugang? Ich meine ja. Dankbarkeit als Gesinnung öffnet auf ein Gegenüber hin und drängt dazu, sich auszudrücken – mit Worten, in einem Blick, durch mein ganzes Dasein. Das ist unter Menschen so und auch nicht anders in der Beziehung zu Gott. Auch der Konfirmationsspruch kann also ein gutes Glaubenspasswort sein.

Der Duden nennt als Synonyme für ’Passwort' die Begriffe Kennwort, Parole und Losung. Das Wort Losung lässt mich sofort an die Herrnhuter Losungen denken, die für jeden Tag ein Wort der Bibel ausweisen. Die Losung für den Tag, an dem Sie diesen Text hier lesen, finden Sie in Ihrem Losungsbüchlein oder im Internet unter www.losungen.de. Die Losungen wechseln täglich. Die Jahreslosung 2024 umspannt ein ganzes Kalenderjahr: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ (1 Korintherbrief 16,14)

Entscheiden Sie selbst, ob die heutige Tageslosung und die Jahreslosung gute Glaubenspasswörter sind.

Aber vielleicht haben Sie ja auch ganz persönliche Glaubenspasswörter?

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - März 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Fröhlich soll mein Herze springen… (EG 36) – O Haupt voll Blut und Wunden… (EG 85) – Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön… (EG 302) – Befiehl du deine Wege… (EG 361) – Lobet den Herren, alle, die ihn ehren… (EG 447) – Geh aus, mein Herz, und suche Freud… (EG 503).

Die Texte zu diesen Gedichtanfängen haben zweierlei gemeinsam. Erstens finden sie sich alle als Lieder im Evangelischen Gesangbuch, viele davon vertont von Johann Crüger und Johann Georg Ebeling. Und zweitens haben alle denselben Verfasser: Paul Gerhardt. Am 12. März ist Paul Gerhardts Geburtstag. Da Paul Gerhardt im Jahr 1607 geboren wurde, begehen wir seinen 417. Geburtstag. Schlage ich im Ev. Gesangbuch das Lied unter der Nummer 417 auf, dann stoße ich – nein – nicht auf ein Lied von Paul Gerhardt, aber auf einen Liedtext, der so beginnt: Lass die Wurzel unsers Handelns Liebe sein, senke sie in unser Wesen tief hinein. Dies könnte als Motto über Paul Gerhardts Leben und seinem dichterischen Schaffen stehen. Paul Gerhardt schreibt aus der tief empfundenen Liebe Gottes heraus und er schreibt seinerseits als ein Liebender.

Zwei Beispiele: In seinem Passionsgedicht „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83) deutet er zunächst das Leiden und Sterben Jesu als Liebeshandeln Gottes. Ich zitiere Auszüge: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder; es geht und büßet in Geduld die Sünden aller Sünder; […] es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod und spricht: Ich will’s gern leiden. […] O Liebe, Liebe, Du bist stark, Du streckest den in Grab und Sarg, vor dem die Felsen springen.“ Und dann erwidert Paul Gerhardt diese Liebe: „Mein Lebetage will ich Dich aus meinem Sinn nicht lassen; Dich will ich stets, gleich wie Du mich, mit Liebesarmen fassen.“

Auch in dem eindringlichen Schmerzenslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) klingt eine innige Liebe zwischen Gott und dem Menschen an. Man könnte geradezu an einen Kuss denken, wenn es dort heißt „Dein Mund hat mich gelabet, mit Milch und süßer Kost, Dein Geist hat mich begabet mit mancher Himmelslust.“

Mal davon abgesehen, dass diese liebesmystisch angehauchte, barocke Sprache heute vielleicht zu überschwänglich klingt, bin ich über diese zärtlichen Gedanken doch froh. Froh, dass Christi Haupt voll Blut und Wunden ganz nahe an die vielen Menschenhäupter herangerückt ist, die auch voll Blut und Wunden sind, in der Ukraine, in Israel und Gaza und an vielen weiteren Orten. Ich bin froh, dass der gute Hirte Jesus die Menschen mit dem Blick der Güte ansieht, obwohl oder gerade weil sein Augenlicht so schändlich zugericht’ ist wie das vieler Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten. Und schließlich bin ich froh, dass wir alle hier in der Passionszeit nicht nur in die Abgründe von Leid, Schuld und Tod blicken, sondern in den Texten Paul Gerhardts immer auch Auferstehungshoffnung und also Trost finden können.

Es ist kein billiger Trost, denn er ist im insgesamt schwierigen Leben von Paul Gerhardt existenziell erkämpft. Mit 14 Jahren war er Vollwaise, das war in den Anfangsjahren des 30-jährigen Krieges, in dessen Verlauf auch seine Geburtsstadt Gräfenhainichen niedergebrannt wurde. Sein Bruder Christian starb an der Pest und von seinen fünf Kindern überlebte ihn nur ein Sohn, Paul Friedrich. Das Testament vom Frühjahr 1676 für diesen Sohn schließt mit den Worten:

Bete fleißig, […] lebe friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekennen beständig, so wirst du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich und seliglich.

Nehmen wir dies – neben seinen Liedern – auch als sein Vermächtnis für uns.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Februar 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Im Chorraum der Marienkirche befinden sich vier steinerne Herren. Jos Weiß – hinten links – steht dort, weil er als Reutlinger Bürgermeister, zusammen mit dem Stadtoberhaupt von Nürnberg, im Jahr 1530 das sogenannte „Augsburger Bekenntnis“ unterzeichnete. – Matthäus Alber, der Reutlinger Reformator, im Chorraum ihm gegenüber stehend, und links vorne, Martin Luther.

Und der kleine, vornehme Herr rechts vorne, Philipp Melanchthon. Er wurde am 16. Februar 1497 geboren. Luther und Melanchthon, sie stehen in der ersten Reihe. „In ihrer Persönlichkeit waren sie denkbar verschieden: Luther der stürmische Kraftmensch, hitzig, reizbar, cholerisch, in seinen Attacken oft maßlos - Melanchthon vorsichtig, stets auf Ausgleich bedacht, klug abwägend, aber auch ängstlich und risikoscheu. Ihre Motivation jedoch war dieselbe: der Traum von einer geläuterten, zum Ursprung zurückgeführten Kirche und die Liebe zur Bibel.“ (Christian Feldmann, Ev. Gemeindeblatt für Württemberg 7/2022, S. 15)

Im Sommer 1518 kommt Philipp Melanchthon „völlig verdreckt nach mehrtägigem Ritt“ in Wittenberg an, um dort drei Tage später seine Antrittsvorlesung zu halten. Äußerlich ein Winzling, etwa 1,50 m groß, mutmaßlich mit einem leichten Sprachfehler, begeistert Melanchthon die Zuhörer im überfüllten Lehrsaal mit seinem geschliffenen Vortrag. Es beginnt die lebenslange Zusammenarbeit zwischen Philipp Melanchthon und Martin Luther, die in eine tiefe Freundschaft der beiden führt und zu grundlegenden Veränderungen in Kirche und Christentum maßgeblich beigetragen hat.

Melanchthons tragende Rolle in der Reformationsgeschichte spiegelt sich in den Zuschreibungen, die man in Artikel-Überschriften finden kann: Universalgelehrter, Schlüsselfigur der Reformation, Chefdiplomat der Protestanten, Außenminister der Reformation. Als „Praeceptor Germaniae“, als Lehrmeister Deutschlands, wurde er schon von seinen Zeitgenossen bezeichnet.

Also steht er zurecht in der Marienkirche mit seinem ausgestreckten Zeigefinger. Einem Zeigefinger übrigens, der nicht drohend erhoben ist wie bei Lehrer Lämpel, sondern als Teil einer offenen Hand, die erklären und zeigen möchte. Mit dem Altar im Blick könnte Melanchthon uns sagen wollen: Gebt Gott allein die Ehre! Gott allein die Ehr, das ist in seiner Reiseuhr eingraviert, mit der Jahreszahl 1530. In jenem Jahr hat Melanchthon das von ihm in Absprache mit Luther verfasste „Augsburger Bekenntnis“ dem Kaiser und den Reichsständen vorgetragen.

Drei weitere kurze Sätze von Philipp Melanchthon möchte ich nennen, die auch etwas von seinem Denken zeigen: Almosen geben armet nicht: Kirchengehen säumet nicht. Oder: Wer beten kann, ist selig dran. Oder: Wer Christus hat, hat alles. Wie eine Erläuterung des letzten kurzen Satzes klingt, was man – aufgeschrieben auf einem Stück Papier – in seinem Sterbezimmer fand: Du wirst von der Sünde loskommen. Du wirst von der Trübsal befreit […]. Du wirst zum Licht gelangen. Du wirst Gott sehen. Du wirst den Sohn Gottes schauen. Du wirst die wunderbaren Geheimnisse erfahren, die du in diesem Leben nicht begreifen konntest, nämlich warum wir so, wie wir sind, geschaffen wurden und wie die beiden Naturen [die göttliche und die menschliche] in Christus miteinander verbunden sind.

Solches Gottvertrauen wünsche ich uns allen.

 

Nachtrag:

Im Wappen Philipp Melanchthons, das seit 1519 belegt ist und ab 1526 auf den Publikationen Melanchthons erscheint, ist „das Wort vom Kreuz“, die Passion als Leiden Christi, bildlich dargestellt. Auf blauem Grund ist ein Kreuz von einer grünen Schlange umwunden. In 4. Mose 21,4-9 wird erzählt, dass sich die Israeliten in der Wüste vor dem Tod durch Schlangenbiss schützen konnten, wenn sie zu einer an einem Pfahl aufgehängten eisernen Schlange aufschauten. Das Motiv wird in Joh 3,14f aufgegriffen und mit der Passion Jesu verbunden: "Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Das Wappen ist am Fuß der Statue gut zu erkennen.

Foto: Manfred Häußler

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Januar 2024
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. (1. Korinther 16,14) Die Jahreslosung im Jahr 2024: Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. Ist Ihnen das gelungen? Alles, was ihr tut – nicht nur das eine oder das andere, nicht nur „jeden Tag eine gute Tat“ ist gemeint, sondern alles, was wir tun, geschehe in Liebe. Das ist ein totaler Anspruch, eine Maximalforderung.

Überlegen wir mal, was wir alles an einem einzigen Tag tun: aufstehen, anziehen, essen, lesen, zustimmen, arbeiten, ausruhen, zuhören, Rad fahren, erzählen, nachdenken, aufräumen, widersprechen, schreiben, einkaufen, einladen, erklären, spielen, schlafen, … Natürlich kann ich nicht alles nennen. Alles das soll in Liebe geschehen? Wie geht Rad fahren in Liebe? Was kaufe ich ein, wenn es in Liebe geschehen soll?

Zu überlegen ist, was mit dieser Liebe gemeint ist. Wohl kaum, ständig ein mit beiden Händen geformtes Herzchen vor sich her zutragen. Beim Radfahren ist das schon mal gar nicht ratsam und bei der Frau an der Kasse im Supermarkt käme es mir missverständlich oder oberflächlich vor. Ganz und gar nicht oberflächlich ist es dagegen, wenn wir für einen erkrankten Nachbarn einkaufen, einer Freundin einen persönlichen Brief schreiben oder dem Postboten Danke sagen, dass er bei jedem Wetter unterwegs ist. Das tun wir aus Liebe. Das ist Liebe in der Weise der Fürsorge, der Freundschaft oder der Wertschätzung. Solche Liebe ist wichtig und unbedingt lobenswert.

Dennoch: Wenn ich die letzten Tage oder auch nur den gestrigen Revue passieren lasse, dann ist klar, dass nicht alles, was ich getan habe, in Liebe geschehen ist. Mein bisschen Liebe hat da einfach nicht ausgereicht. Ich bin an der einen oder anderen Stelle gescheitert, manchmal sogar krachend gescheitert.

Aber geht es in der Jahreslosung überhaupt um meine Liebe? Geht es darin um unsere menschliche Liebe, die zu haben wir uns wünschen und die zu leben wir uns bemühen? Romano Guardini schreibt: Die Liebe „ist kein allgemein ethischer Wert; keine in sich bestimmte Gesinntheit des Wohlwollens oder der Güte, kein unmittelbar verständliches Gefühl des Menschenherzens, oder was immer. Das Wort »Liebe« ist hier überhaupt kein Begriff, sondern ein Name; ein Name für etwas, das es nur einmal gibt, und zwar für die Gesinnung Gottes.“ Und an anderer Stelle: „Jene Gesinnung, aus welcher heraus Gott das Unerhörte der Menschwerdung vollbringt - eben das ist die Liebe.“ Mit diesen Sätzen sind wir an etwas ganz Großem dran. Wir berühren ein Geheimnis, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Da geschieht tatsächlich etwas Unerhörtes, es geschieht letztlich Unbegreifliches – Gott wird ein Mensch, aus Liebe.

Die Liebe in Form der Gesinnung Gottes eröffnet einen weiten Raum, in dem wir leben und lieben können. In diesem weiten Raum der Liebe Gottes ist auch das Scheitern unserer Bemühungen mit eingeschlossen und möglich. Gott weiß, dass wir scheitern. Gott traut uns aber auch zu, dass wir daraus lernen. Wir können als Christinnen und Christen im weiten Raum der Liebe Gottes so leben, wie es Samuel Beckett einmal ausgedrückt hat: „Immer versucht. Immer gescheitert. Macht nichts. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Besser scheitern ist ja vielleicht schon eine Weise des Gelingens. Und noch etwas, etwas noch Besseres: Zur Weite der Liebe Gottes gehört, dass er uns vergibt, wenn wir scheitern. Diese vergebende Liebe Gottes können wir vielfach am Leben und Leiden Jesu ablesen.

Scheuen wir uns also bitte nicht, „kleine Brötchen zu backen“ und versuchen wir es täglich neu, dass alles, was wir tun, in Liebe geschehe, in SEINER Liebe.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - November 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Wieder einmal schließt sich der Kreis. Noch nicht der kalendarische Jahreskreis, aber der Kirchenjahreskreis. Mit dem Totensonntag ging das alte Kirchenjahr zu Ende. Mit dem ersten Advent, den wir nächsten Sonntag feiern, beginnt ein neues. Passen dieses Ende und der Neuanfang zusammen, so nahtlos, wie wir es bei einem Kreis voraussetzen?

Am Totensonntag wurden in unseren Kirchen die Namen der im Kirchenjahr Verstorbenen verlesen. 13 Menschen waren es, die aus meinem engeren Lebenskreis gegangen sind. Menschen, die ich mehr oder weniger gut kannte, darunter auch enge, liebe Freunde. Ihr Tod lehrt mich, dass auch ich sterben werde. Manchmal sagen Leute, dass die eigene Sterblichkeit nicht zu begreifen sei. Das bezweifle ich. Meine Toten, um die ich trauere, lehren mich meine Sterblichkeit. Unsere Toten, die wir vermissen, lehren uns alle unser aller Sterblichkeit. Zum menschlichen Leben gehört die Endlichkeit dazu. Darum ist es zutiefst menschlich, die eigene Sterblichkeit nicht zu verdrängen, sondern ihr in unserem Denken Raum zu lassen. Es ist menschlich, ja, es macht sogar klug, die eigene Sterblichkeit zu bedenken. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt eine Bitte an Gott im Psalm 90. Und da wir die eigene Sterblichkeit an unseren Toten ablesen, ist es menschlich und klug machend, ihrer zu gedenken. So gut wir es wissen und können, denken wir an das, was ihnen gelungen ist und woran sie gescheitert sind. Wir gedenken der beglückenden Begegnungen, aber auch ihres Leidens. Wir erinnern uns an sie als treue Begleiter, aber wir übersehen nicht ihre Schuld und ihre Verwicklungen. Liebe, Leben und Leiden stehen uns vor Augen. In all dem sind uns unsere Toten zwar kein Handbuch zum genauen Nachleben, aber doch ein Lehrbuch von Lebensmöglichkeiten – und, ja, ein Spiegel für unser Dasein. Neben manch anderem bemerke ich in diesem Spiegel, also im Leben und im Sterben meiner Toten und in meinem eigenen Leben, wie dürftig es zuweilen ist, das Leben, und wie bedürftig ich bin, wie angewiesen auf die Hilfe anderer, wie wehrlos und winzig.

Doch genau an dieser Stelle macht Gott ein überraschendes Angebot: Warte, ich komme zu dir, ganz nah an deine Seite. Warte, ich komme in dein Leben als kleines Kind, angewiesen auf die Hilfe anderer, wehrlos und winzig. Mehr Bedürftigkeit geht nicht. Warte, mein von Maria zur Welt gebrachter Sohn wird dir zeigen, wie Liebe, Leben und Leiden zusammengehören. Warte, der Tod wird zwar „die letzte große Unverschämtheit des Lebens“ (Fulbert Steffensky) bleiben, aber ich werde dir ein unvergängliches Wesen schenken durch die Auferstehung in ein ewiges Leben. Du tust deshalb gut daran, den Totensonntag als Ewigkeitssonntag zu feiern. Und warte, die Kraft meines Geistes wird dir helfen, mir zu vertrauen. Warte nur, warte…

Die bald beginnende Adventszeit ist eine Zeit des Wartens, eine Art Weihnachts-Schwangerschaft. Um uns herum in den Geschäften und Fußgängerzonen erleben wir zwar so etwas wie eine Frühgeburt von Weihnachten. Aber so ein einschneidendes Ereignis wie die Menschwerdung Gottes braucht Vorbereitung, wie die Geburt jedes Kindes Vorbereitung braucht. Also lassen wir uns ruhig Zeit. Lassen wir in das stille Totengedenken nach und nach die Melodien und Texte der Adventszeit hineinklingen.

Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist. Ach, zieh mit deiner Gnade ein; dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein Heiliger Geist uns führ und leit, den Weg zur ewgen Seligkeit. Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr. (EG Nr. 1) Christus advenit – Christus kommt.

So passen der Ewigkeitssonntag und die Adventszeit zusammen. So schließt sich der Kreis.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

 

Er [Gott] weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. (Jesaja 50,4) Dieses Bibelwort hat mich sofort an den ersten Vers des Gedichts von Jochen Klepper aus dem Jahr 1938 erinnert:

Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.

(vertont von Rudolf Zöbeley 1941, EG 452)

In der Tageslosung und in Jochen Kleppers Text geht es zunächst um das Hören. Es ist ja auch eine gute Idee, früh am Tag auf ein Wort der Bibel zu hören, sich von Gottes Wort im Menschenwort ansprechen zu lassen. Und wenn Gott selbst mir das Ohr öffnet, dann kann sein Wort tief in mich hineinfallen, sodass mich die Tageslosung als eine Art geistliches Minimum durch den ganzen Tag begleitet. Ich muss zugeben, dass mir das nicht immer gelingt. Oft weiß ich um die Mittagszeit schon nicht mehr, wie die Tageslosung heißt. Jochen Kleppers Text thematisiert aber nicht nur das Hören. Indem er von der Dämmerung, vom heraufziehenden Tag, vom neuen Licht spricht, spielt er auch auf das Sehen an. Das neue Tageslicht taucht die graue Welt in bunte Farben, die ich sehen und über die ich staunen kann. Hören und Sehen sollen uns eben gerade nicht vergehen, Hören und Sehen sollen geweckt werden. Hören und Sehen gehören zusammen. Im Text einer Arie von Georg Friedrich Händel (HWV 207) werden beide auf eine überraschende Weise miteinander verknüpft:

Meine Seele hört im Sehen,
wie, den Schöpfer zu erhöhen,
alles lacht, alles jauchzet,
alles jauchzet, alles lacht.
Höret nur!
Des erblühenden Frühlings Pracht
ist die Sprache der Natur,
die sie deutlich durchs Gesicht
allenthalben zu uns spricht.

Es könnte genauso gut heißen: Des knallbunten Herbstes Pracht ist die Sprache der Natur, die sie deutlich durchs Gesicht, also durch das Sehen, zu uns spricht. Die wunderbare Laubfärbung in den Wäldern am Albtrauf macht mir den Herbst zur liebsten Jahreszeit hierzulande. Da wird die Landschaft zur Augenweide. Was das Auge sieht, kann die Seele hören. Meine Seele hört im Sehen. Allerdings nur dann, wenn das Sehen mehr als eine bloße Sinneswahrnehmung oder ein schnelles, oberflächliches Abfotografieren ist. Klick – und weiter. Meine Seele hört im Sehen, wie, den Schöpfer zu erhöhen, alles lacht, alles jauchzet. Georg Friedrich Händel beschreibt ein Sehen, das zum Loben der Dinge und darüber hinaus zum Lob des Schöpfers wird. Das kommt ganz treffend im Wort jauchzet zum Ausdruck. Schon das Aussprechen des Wortes bewegt den Kopf nach oben. Versuchen Sie mal, das Wort jauchzet laut auszusprechen und dabei den Kopf zu senken; das passt gar nicht.

Wo wir Menschen die Natur als Schöpfung Gottes liebevoll, achtsam und mit Respekt betrachten, da kann uns ein bunter Herbststrauß, das Rascheln der Blätter unter unseren Füßen, ein weißes Wolkengebirge und auch ein wohltuender Landregen wie ein Wort Gottes vorkommen, das den Ohren, den Augen und der Seele gut tut und uns mit Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, verbindet.

Das Hineinschauen und das Hineinhören in die Schöpfung sollen freilich den Blick in die Bibel nicht ersetzen. Das eine tun und das andere nicht lassen. Die Tageslosungen und die tägliche Bibellese, z.B. nach dem ökumenischen Bibelleseplan, sind dafür brauchbare Hilfen. Und dann dran glauben, dass es geschieht: Er [Gott] weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.

 

 

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Dein Glaube hat Dir geholfen.“ – Ein paar Wundergeschichten in den Evangelien en-den mit diesem Satz. „Dein Glaube hat Dir geholfen.“ So tröstlich einfach dieser Satz klingt, so unbeantwortet lässt er zunächst die Frage nach der Rolle des Glaubens im Wundergeschehen.

Einer Antwort auf diese Frage nähern wir uns, indem wir beachten, wie biblische Wundererzählungen den Glauben schildern. Drei Beispiele:

– Freunde seilen ihren gelähmten Freund vom aufgeschlagenen Flachdach in den Raum ab, um ihn ganz nahe zu Jesus zu bringen (Mk 2,1-12). Sie glauben.

– Eine Frau tritt überraschend an Jesus heran und berührt wortlos sein Gewand und erfährt Heilung (Lk 7,36-50). Sie glaubt.

– Ein Blinder bei der Stadt Jericho bringt laut schreiend zum Ausdruck, dass er zu Jesus gelangen will (Lk 18,35-43). Er glaubt.

Eine tatkräftige Annäherung, eine wortlose Berührung, ein menschlicher Notschrei – jedes Mal suchen die später Geheilten in besonderer Weise die Nähe Jesu. Sie kommen zu Jesus, weil sie ihm vertrauen und auf seine Hilfe hoffen. Sie gehen dabei sehr hartnäckig auf Jesus zu und lassen sich dabei von nichts und niemandem aufhalten. Der Blinde nicht von den Ermahnungen der Leute, doch still zu sein. Die Frau nicht von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Zeit, als Frau niemals in eine Männerrunde einzutreten. Die Freunde des Gelähmten nicht von einer Menschenmenge und nicht einmal von einem stabilen Flachdach. Dieses Geschehen hebt Jesus als Glauben hervor, wenn er sagt: „Dein Glaube hat dich gerettet.“

Unser Glaube ist letztlich auch nichts anderes: Wir wollen in Jesu Nähe sein; wir versuchen, das Vertrauen zu Gott täglich neu zu buchstabieren; wir hoffen auf seine Hilfe. Gilt also auch für uns: Dein Glaube hat Dir geholfen? Im August fragte der Reutlinger Generalanzeiger in einem Artikel: Kann Glaube heilen? Etwas defensiver gefragt: Kann sich der Glaube als Lebenshaltung heilsam auf die Gesundheit auswirken, auch ohne die Erfahrung einer konkreten Wundertat?

Vor einer kurzen Antwort drei warnende Hinweise:

1. Glaubensvollzüge, z.B. das Gebet oder spirituelle Übungen, können niemals eine Genesung erzwingen.

2. Auch die medizinischen Möglichkeiten sind Gaben Gottes und darum keine mit dem Glauben konkurrierende Alternative.

3. Niemand darf den falschen Umkehrschluss ziehen und meinen, wer nicht gesund sei, glaube nicht richtig.

Unter Beachtung dieser Hinweise wage ich ein vorsichtiges Ja auf die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und der Gesundheit eines Menschen geben kann. Studien mit insgesamt mehr als 100.000 Teilnehmenden nennen u.a. drei Wirkfaktoren:

1. Gebete, und religiöse Feiern, geistliche Lieder und Musik wirken entlastend auf den menschlichen Organismus. Man kann beobachten, dass der Blutdruck sinkt, der Herz-schlag langsamer wird, weniger Stresshormone im Körper gebildet werden. Dies fördert die Gesundheit nachweislich, vor allem im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

2. Der Glaube gibt dem Leben Sinn und Orientierung. Die Studien zeigen, dass sich eine aus dem Glauben motivierte positive Grundstimmung und ein zielgerichtetes Engagement auf die Funktion des Immunsystems günstig auswirken.

3. Das soziale Netz einer Kirchengemeinde mit ihren Gruppen und Kreisen bietet Halt, ermöglicht Gemeinschaft und erzeugt ein Gefühl von Geborgenheit – das alles sind Aspekte, die unsere Gesundheit fördern.

Der erwähnte Zeitungsartikel im Reutlinger Generalanzeiger schließt mit einem Zitat des früheren Präsidenten der Berliner Ärztekammer Erich Huber. Er sagte: „Wenn Religiosität ein Medikament wäre, wäre es längst zugelassen, denn es wirkt.“

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Wir leben in der Schöpfung Gottes. Wir sind ein Teil von ihr. Und Tag für Tag sind wir mit unserem Tun und Lassen aufgefordert, sie zu bebauen und zu bewahren.

Ich möchte aus biblischer Perspektive drei Aspekte nennen, die vielleicht auch „konkrete Schritte zur Bewahrung der Schöpfung“ sein können.

Als erstes nenne ich das Staunen. „HERR, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.“ (Psalm 104,24) Das Staunen ereignet sich in der Bewunderung, z.B. des von Sternen übersäten Nachthimmels, eines Früchte tragenden Obstbaums oder eines tapfer blühenden Blümchens am Wegrand. Be-Wunder-ung – das macht schon das Wort deutlich – kann die Wirklichkeit als ein Wunder begreifen. Von da aus ist es naheliegend, das Wunder der Schöpfung zu schützen und zu pflegen. Und den Schöpfer zu loben. Psalm 104 ist mit seiner Anrede an Gott ein Gebet. Staunen und Beten, das passt gut zusammen.

Als zweites nenne ich das Herrschen. „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“, so übersetzt die Lutherbibel den sog. Schöpfungsauftrag in Genesis 1,28. Untertan machen, herrschen – das klingt problematisch und klingt wie ein Gegensatz zur „Bewahrung der Schöpfung“. Es kann sogar kriegerische Bilder hervorrufen. Und leider tritt der Mensch tatsächlich immer wieder als Eroberer und Überwältiger der nichtmenschlichen Geschöpfe und sogar seinesgleichen auf. Ursprünglich weist das mit „untertan machen“ übersetzte Wort aber nicht zwangsläufig auf ein gewalthaltiges Verhältnis hin, sondern meint „den Fuß auf etwas setzen.“ Dies als Aufforderung zum Zertrampeln, zu Unterdrückung und Ausbeutung zu verstehen, sei völlig daneben, so der Alttestamentler Erich Zenger. «Gestaltet die Erde als Lebensraum!», sei damit eher ausgedrückt. Und zum Wort „herrschen“ schreibt Bernd Janowski, ebenfalls Alttestamentler, dass es die Verantwortung anzeige, „für die Integrität und das Lebensrecht der Schöpfung“ zu sorgen. Zusammenfassend möchte ich das „untertan Machen“ und das „Herrschen“ als die Haltung und das Handeln eines guten Hirten beschreiben, der seine Herde pfleglich behandelt und beschützt und ihre Lebensgrundlagen schont.

Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt: beim guten Hirten Jesus Christus. Betrachten wir sein Leben und Leiden, dann sehen wir, dass die Merkmale seiner Herrschaft die dienende Liebe und die Hingabe sind. Für ein Leben mit Jesus heute kann dies folglich nur bedeuten, sich um die geschundenen, verachteten und übersehenen Mitgeschöpfe zu kümmern, ihr Lebensrecht zu würdigen und sich für ihre Erhaltung einzusetzen.

Es ist Schöpfungszeit. Mögen wir im Staunen, im recht verstandenen Herrschen und in der Nachfolge Jesu konkrete Schritte zur Bewahrung der Schöpfung finden bzw. bisher schon geleistetes Engagement fortsetzen und verstärken.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - September 2023
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Jeder Tag, an dem du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“ – Dieser Satz steht nicht in der Bibel. Es ist ein Zitat von Charlie Chaplin, der es in seinen über 350 Filmrollen geschafft hat, dass die Zuschauer lächeln und sogar lauthals lachen mussten.

Mit dem Lächeln hat es tatsächlich etwas Besonderes auf sich. Manche sagen, ein Lächeln sei die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen. Andere behaupten, Lächeln sei die entspannteste Art, die Gesichtsmuskeln zu halten. Und eine internationale Studie kommt zu dem Ergebnis, dass selbst ein unechtes Lächeln, also ein Lächeln, bei dem einem gar nicht danach zumute ist, die Stimmung heben kann. Sie können es ja einmal selbst ausprobieren.

Hat Jesus eigentlich gelächelt oder gar herzhaft gelacht? Schauen wir in die Evangelien, dann erfahren wir, dass Jesus erzählt und geheilt hat, gebetet und geruht, dass er geschlafen und gegessen hat, dass er zornig war und streitbar, und dass er geweint hat, lesen wir dort auch. Aber gelächelt oder gelacht — Fehlanzeige. Bei diesem Befund darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, was die Absicht der Evangelienschreiber war. Der Theologe Martin Kähler hat es einmal so ausgedrückt: „Die Evangelien sind im Grunde Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung.“ Da ist dann wenig Raum, explizit über Lächeln und Lachen zu erzählen. Da läuft alles darauf hinaus, dass gelitten, gestorben und begraben wird. – Ja, zum Schluss berichten die Evangelisten auch von Begegnungen mit dem Auferstandenen. Für unser Lächeln und Lachen ist die Auferweckung Jesu der Urgrund. Und tatsächlich wurde früher an Ostern in den Kirchen herzhaft gelacht, z.B. weil der Pfarrer seine Predigt mit Witzen gespickt hatte. Osterlachen nannte man das.

Aber ich hatte nach dem Lächeln und Lachen Jesu gefragt. Ich bin sehr sicher, dass Jesus in seinem Leben sowohl gelächelt als auch gelacht hat. Ein paar Beispiele:

Immer wieder erzählte er in seinen Gleichnissen Geschichten, die wie Witze daherkommen. Zum Beispiel, dass ein Mensch all seinen Besitz verkauft habe, um eine einzige kostbare Perle zu erwerben. „Das ist doch wohl ein Witz!“, werden die Leute gesagt haben. Und Jesus wird gelächelt haben, wenn einer der Zuhörer bemerkt hat, dass er vom Reich Gottes als dieser kostbaren Perle sprach. Oder mit Sätzen wie „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ mag Jesus seine Zuhörer zum Lachen gebracht haben und er selbst könnte dabei geschmunzelt haben. Können Sie sich die Segnung der Kinder vorstellen, ohne dass Jesus die Kleinen angelächelt hat? – Ich auch nicht. Und als Jesus in Jericho den Oberzöllner Zachäus im Geäst eines Baumes entdeckt hat, kann es gut sein, dass er spontan lachen musste. Dabei hat er Zachäus nicht ausgelacht. Das zeigt der Fortgang der Geschichte: Jesus wird Gast in dessen Hause und erlebt, dass Zachäus sein betrügerisches Leben radikal ändern will. Gewiss ist auch dies ein Anlass zum Lächeln gewesen.

Sind diese Beispiele nun ein Plädoyer für häufiges Lächeln und Lachen – mit Jesus als Anwalt? Ist das angebracht angesichts der Weltlage und vielleicht auch des persönlichen Befindens? Ja, das ist es. Es geht schließlich nicht darum, alle Probleme oberflächlich wegzulächeln. Das geht auch gar nicht. Und wir sollen das Lächeln auch nicht als wohldosierte sportliche Übung abarbeiten, etwa nach dem Motto: Beginne den Tag mit einem Lächeln, dann hast du’s hinter Dir. Nein, es geht um wahrhaftiges, ehrliches Leben vor Gott und den Menschen. Es geht darum, dass alles seine Zeit und seinen Ort hat, aktiv sein und ruhen, reden und still sein, weinen und lachen. Wenn wir wahrhaftig und aufmerksam leben, dann – so bin ich überzeugt – gibt es jeden Tag mindestens einen Anlass, der uns zum Lächeln oder zum Lachen bringt.

Deshalb sage ich, frei nach Charlie Chaplin: Jeder Tag, in dem neben vielem anderen auch ein Lächeln Platz hat, ist kein verlorener Tag.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - September 2023
von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Unterm Engel sind wir, wenn wir uns in der Marienkirche versammeln. Dabei ist es doch in Wirklichkeit kein Engel, der auf der Kirchturmspitze steht. Es ist nur die künstlerische Vorstellung eines Engels. Mit Flügeln und in Gold ausgeführt, entspricht der Marienkirchen-Engel durchaus gängigen Darstellungen dieser geheimnisvollen Wesen. Engel sind geheimnisvoll, weil diese Darstellungen nicht zur sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit passen. Wir hören nicht ihren Flügelschlag über unseren Häuptern und nicht das Knirschen ihrer Schritte neben uns. Was hat es mit den Engeln auf sich? In der Bibel wird an vielen Stellen von ihnen erzählt. Im Glaubensbekenntnis ist von ihnen nicht die Rede.

Papst Johannes XXIII. (1881-1963) war von ihrer Existenz überzeugt. Er ging sogar davon aus, dass er, wie jeder andere auch, einen persönlichen Engel hat. Er meinte damit nicht seinen Privatsekretär. Vor wichtigen Treffen bat er seinen Engel, dieser möge mit dem Engel des Gegenübers das Treffen schon mal vorab in gute Bahnen lenken. Engel als freie, doch dienstbare Geister. So konkret und pragmatisch lebte Johannes XXIII. seinen Glauben.

Ich bin, was Engel betrifft, etwas skeptischer. Insbesondere mag ich es nicht, wenn der Schutzengel-Gedanke zu überzogen daherkommt. Es ist ja nicht so, dass ein Engel vor allem Widerwärtigen und Bösen beschützt, sozusagen wie ein Superwesen über unserem Leben schwebt und uns um jedes Schlagloch und jeden Fettnapf herum lenkt. Eine solche Vorstellung wäre missverständlich, im Grunde schlicht falsch. Alle Menschen geraten auf ihrem Lebensweg in Schwierigkeiten, in schwer auszuhaltende Situationen, in Unglück und Leid. Doch gerade dann ist es wichtig, einen Begleiter zu haben, der inmitten der Schwierigkeiten bei uns ist, und der auch in bleibendem Dunkel an unserer Seite bleibt. „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar“, so hat es Dietrich Bonhoeffer in seinem Brief an Maria von Wedemeyer aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin am 19. Dezember 1944 geschrieben. „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Die guten Mächte machten ihm Gottes treue Gegenwart gewiss. Dietrich Bonhoeffer dachte bei den guten Mächten vielleicht an geheimnisvolle Engelwesen, aber er dachte durchaus auch an Menschen, mit denen er sich im Gedenken und im Beten verbunden und dadurch von ihnen getragen wusste.

Engel und Menschen – manchmal sind sie ein und dasselbe. Und so schließe ich mit dem bekannten Gedicht von Rudolf Otto Wiemer (1905-1998): Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel.

Nein, Herr Wiemer, müssen es nicht. Es können auch Frauen und diverse andere sein. Und tatsächlich ohne Flügel. Einfach Menschen.

 

Es müssen nicht Menschen mit Flügeln sein, die Engel.

Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,

oft sind sie alt und hässlich und klein, die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand, die Engel.

Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,

oder er wohnt neben dir, Wand an Wand, der Engel.

Dem Hungernden hat er das Brot gebracht, der Engel.

Dem Kranken hat er das Bett gemacht,

und hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht, der Engel.

Er steht im Weg und er sagt Nein, der Engel.

Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein –

Es müssen nicht Menschen mit Flügeln sein, die Engel.
(nach Rudolf Otto Wiemer)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juli 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Man sah sie fast nur mit dem Fahrrad, die französische Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl. Viele Jahre lang hat sich die leidenschaftliche Christin im Pariser Vorort Ivry um die Industriearbeiter und ihre Familien gekümmert. „Ivry, die kommunistische Stadt, war meine Schule angewandten Glaubens - sie hat mir meine spirituelle Lehre erteilt“, hat Madeleine Delbrêl einmal geschrieben. In ihrem Nachlass fand man einen Text, in dem sie das Fahrradfahren mit dem Glauben vergleicht. Sie gab ihm die Überschrift „Fahrrad-Spiritualität“. Gleich in der ersten Zeile spricht sie Gott direkt an, darum kann dieser Text auch als ein Gebet verstanden werden. Hier ein Auszug:

»Immer weiter!«, sagst du zu uns in allen Kurven des Evangeliums.

Um die Richtung auf dich zu behalten, müssen wir immer weitergehen,

selbst wenn unsere Trägheit verweilen möchte.

Du hast dir für uns ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht,

ein Gleichgewicht, in das man nicht hineinkommt und das man nicht halten kann,

es sei denn in der Bewegung, im schwungvollen Voran.

Es ist wie mit einem Fahrrad, das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt;

ein Fahrrad, das schief an der Wand lehnt, bis man sich darauf schwingt

und auf der Straße davonbraust.

Erinnern wir uns noch, wie es war, als wir das Radfahren gelernt haben? Meistens sind es erstmal kurvige Schlangenlinien gewesen, weil das Rad mit uns im Sattel mal mehr zur einen und dann wieder zur anderen Seite zu kippen drohte. Mit dem Gleichgewicht wurde es besser, wenn wir es gewagt hatten, mutig und fester in die Pedale zu treten. Dadurch fuhren wir natürlich auch schneller, was den Puls der zuschauenden Eltern ebenfalls beschleunigte. Aber wir fuhren im Grunde sicherer geradeaus. Was war das für ein tolles Gefühl!

Mit dem Glauben, der vertrauensvollen Liebes-Beziehung zu Gott, ist es tatsächlich ähnlich. Diese Liebes-Beziehung wird mit der Zeit immer tragfähiger, wenn wir einfach mal drauflosglauben. Zuerst mag es ein etwas wackliges Hin und Her sein „in den Kurven des Evangeliums“, wie Madeleine Delbrêl schreibt. Wie sollen wir z.B. umgehen mit den Worten der Bergpredigt Jesu? Mal sind die Worte ein wohltuender Ratschlag – Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! (Mt 7,12; die Goldene Regel) – mal erscheinen sie uns wie eine überharte Forderung – Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen. (Mt 5,44)

Mutig und festen Herzens sollten wir in die Glaubenspedale treten, um letztendlich sicherer voran zu kommen. Noch einmal Madeleine Delbrêl:

Wir können uns nur aufrecht halten, wenn wir weitergehen,
wenn wir uns hineinwerfen in das Abenteuer verzehrender Liebe.

Klingt das zu anstrengend? In vielen Fahrrädern ist heute ein Akku verbaut, der als ein großer Dynamo den Antrieb unterstützt. In den Glauben ist ebenfalls ein Dynamo verbaut. Es ist der Heilige Geist, für den im griechischen Neuen Testament das Wort dynamis steht. Diese Geistkraft gibt uns die entscheidende Unterstützung, um auf unserem Glaubensweg weiterzukommen. Beim Radfahren und im Glauben hilft uns das besonders, wenn es bergauf geht. Und nur, wenn wir selbst mitmachen. Das haben wir von Madeleine Delbrêl gelernt.

 

Auszüge aus: Madeleine Delbrêl, Der kleine Mönch, Ein geistliches Notizbüchlein, Verlag Herder Freiburg 1991.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juni 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Bet für’s bucklicht Männlein mit

In der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) aus dem Jahr 1806 findet sich ein Gedicht, von dem Sie hier drei der acht Strophen lesen können:

Will ich in mein Gärtlein gehn,
Will meine Zwiebeln gießen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu niesen.
Will ich in mein Stüblein gehn,
Will mein Müslein essen,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Hat’s schon halber gessen.

Nun will ich hier natürlich nicht über Gartenarbeit oder gesundes Frühstück schreiben. Das „bucklicht Männlein“ wollte ich Ihnen mit diesen zwei Strophen vorstellen. Es ist die achte und letzte Strophe des Gedichts, die mir eigentlich wichtig ist:

Wenn ich an mein Bänklein knie,
Will ein bißlein beten,
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu reden:
„Liebes Kindlein, ach, ich bitt,
Bet fürs bucklicht Männlein mit!“
Bet fürs bucklicht Männlein mit!

Ja, geht das denn überhaupt, dass man für einen anderen betet oder anders herum, dass jemand anderes für mich betet?

Wir haben als Evangelische gelernt, dass wir unvertretbar sind; jeder steht für sich allein vor Gott. Das ist eine richtige und wichtige Erkenntnis. Doch eine andere Erkenntnis ist ebenso schwerwiegend und findet sich vielleicht eher bei Katholiken: Wir leben in einem Geflecht, das wir nicht selbst gewoben haben und essen von Broten, die wir nicht selbst gebacken haben. „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ sind wir (Bernhard von Chartres um 1120), getragen vom Glauben, von der Hoffnung und der Liebe unserer Glaubensgeschwister und sogar unserer Toten. Wenn wir ihre Gebete sprechen und ihre Lieder singen, dann ist es, als beteten sie für uns. Wir leihen ihnen unsere Stimme und lassen ihnen das Recht ihrer Sprache und dürfen erwarten, dass wir dadurch getragen und getröstet werden, dass wir mit ihren Worten Dank ausdrücken können, dass wir in ihren Bitten aufgehoben sind, dass wir uns ihre lobenden Worte für Gott zu eigen machen können.

„Bucklicht Männlein“ und bucklicht Fraulein sind wir zuweilen alle – und manchmal vom Leben so gebeugt, dass wir den Blick nicht mehr erheben können, geschweige denn ein Gebet für uns selbst zustande bringen. Dann ist das Gebet der anderen wie ein Rollator für das eigene verzagte Herz. – Also ja, es geht, dass jemand anderes für mich betet.

Ganz genau so dürfen wir auch darauf vertrauen, dass unsere Fürbitte für andere eine Stütze ist. Dabei ist es nicht wichtig, wie geschliffen unsere Gebete sind. Reden wir zu Gott einfach so, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Und wenn das nicht geht? Dann leihen wir uns doch Worte aus dem reichen Schatz, den uns unsere Vorfahren im Glauben hinterlassen haben. Dazu gehören z.B. die Lieder und Texte im Ev. Gesangbuch. Und natürlich die biblischen Psalmen. In ruhigen Momenten oder am Ende des Tages denke ich an Menschen und Situationen und bete für sie im Sinne des 23. Psalms: HERR, sei ihr Hirte, lass sie nichts mangeln. Weide sie auf einer grünen Aue und führe sie zum frischen Wasser. Erquicke ihre Seelen und führe sie auf rechter Straße, um deines Namens willen. usw. – Also ja, das geht, dass man für andere beten kann.

Mit beiden Richtungen, im Beten für andere und wenn andere für uns beten, kommen wir der Aufforderung im Jakobusbrief nach: „Betet für einander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jakobus 5,16; Einheitsübersetzung)

Dietrich Bonhoeffer stellt das Beten noch in einen größeren Zusammenhang, in einen Zusammenhang mit Handeln und Warten:

Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit. – Das waren die drei Worte, die er im Mai 1944 in einem Brief aus dem Gefängnis heraus seinem Patensohn zur Taufe mit auf den Lebensweg gab.

Zu allen dreien wünsche ich Ihnen Gottes Segen.

 

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Angenommen, es wäre wie im Märchen und irgendein geheimnisvolles Wesen würde Ihnen einen Wunsch gewähren, einen einzigen. Was würden Sie sich wünschen? –– Wäre es ein größtmöglicher Wunsch? Reichtum? Ausgesorgt zu haben für immer? Gesundheit, natürlich; viele Menschen sagen, es sei das Wichtigste überhaupt. Ein langes Leben, nie wieder krank sein? Oder käme Ihr Wunsch bescheidener daher? Was die Gesundheit angeht, vielleicht so, wie es Eckart von Hirschhausen einmal formuliert hat: Oben klar und unten dicht, lieber Gott, mehr will ich nicht. Vermutlich würden Sie darüber nachdenken, diesen einen Wunsch für andere einzusetzen. Für Ihre Familie, für Menschen, die Sie lieb haben. Oder Ihr Wünschen greift weiter aus und erinnert sich der in der Bibel oft beschriebenen Sehnsucht, dass die Blinden sehend, die Lahmen gehend, die Gefangenen frei, die Hungernden und Dürstenden satt und gestillt sein mögen. Oder würden Sie sich und der Welt einfach Frieden wünschen? –– Wir merken schon, es gibt so viele Wünsche, kleine, große und riesengroße. Da ist es schwierig, richtig zu wünschen, bei nur einem einzigen Wunsch erst recht.

Vor genau dieser Schwierigkeit stand einst auch König Salomo. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, dass Gott dem jungen Salomo bei dessen Regierungsantritt im Traum erscheint und ihm eröffnet, dass er einen Wunsch frei hat: »Was immer du bittest, will ich dir geben.« Mit Salomos Wunsch – Sie erfahren ihn gleich – ist Gott ganz einverstanden: »Du hast weder um ein langes Leben gebeten noch um Reichtum oder den Tod deiner Feinde. Stattdessen hast du um Einsicht gebeten, um auf mich zu hören. […] Darum werde ich deine Bitte erfüllen.« (1. Kö 3,11f; Basisbibel) Salomos Wunsch war: »Gib mir ein hörendes Herz.« Mit dem Wort ’Herz’ meinen wir heutzutage unser Gemüt und Gefühl. Im Althebräischen ist es etwas anderes: da ist das Herz der Sitz des Verstandes und Willens. Salomo bittet Gott also: Schenke mir die Einsicht, meinen ganzen Willen dafür einzusetzen, dass ich den anderen und dir, Gott, wirklich zuhören kann. Mit dem Zuhören ist es so eine Sache. Wie oft sind wir abgelenkt, zerstreut oder zu sehr mit uns selbst beschäftigt! Manchmal hören wir nur das, was wir hören wollen, nicht das, was das Gegenüber tatsächlich sagt. Mal empfinden wir als langweilig, was wir hören, und schalten auf Standby. Ein andermal interpretieren und deuten wir das Gehörte vorschnell als Angriff und reagieren so, dass dem anderen mit dem Hören auch gleich noch das Sehen vergeht.

Gib mir ein hörendes Herz. Zu dieser Gabe gehört nicht nur das Zuhören, sondern auch das Aufhören. Aufhören heißt ja normalerweise innehalten, etwas beenden. Hör mal auf zu reden, hör auf zu streiten, hör auf! Damit können wir ein hörendes Herz zwar nicht schaffen, es bleibt immer ein Geschenk. Aber wir können im Aufhören signalisieren, dass wir für dieses Geschenk offen und empfänglich sind. Ähnliches geschieht im ’Aufschauen’. Da geht es um eine Veränderung der Blickrichtung: weg vom Blick nach unten, wo wir Dinge in den Griff kriegen wollen oder uns einer Sache bemächtigen möchten. Statt dessen: Auf-schauen, hinauf schauen – und entsprechend: auf-hören, hinauf hören, nach oben hören.

Nach oben, das ist die Blickrichtung und Hörrichtung von Kindern. Die Richtung nach oben gehört zum Kindlichsten an einem Kind, schon allein wegen der geringeren Körpergröße. Was ein Kind erwartet, ist über ihm, nicht unter ihm. Alles lässt es sich geben. „Kinder strahlen – von Geschenk.“ (Heinrich Spaemann) Ihr müsst wie die Kinder werden, sagt Jesus. Fangen wir an, mit dem Wunsch: Gib mir, Gott, ein hörendes Herz, ein zu-hörendes und ein auf-hörendes.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Ein Reisezirkus war in Brand geraten. Der Direktor schickte daraufhin den Clown, der schon zur Vorstellung geschminkt war, in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen. Es bestand die Gefahr, dass das Feuer über die abgeernteten, ausgetrockneten Felder auch auf das Dorf übergreifen könnte. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, eiligst zu dem brennenden Zirkus zu kommen und löschen zu helfen. Aber die Dörfler hielten die Aufregung des Clowns für gespielt, ein Vorgeschmack auf die Vorstellung am Abend. Sie applaudierten und lachten lauthals. „Bravo, weiter so! Bring uns zum Lachen!“ Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute. Er versuchte vergeblich, den Menschen klarzumachen, dies sei kein Spiel, es sei bitterer Ernst, es brenne wirklich. Sein Gestikulieren und Flehen steigerte nur das Gelächter – bis schließlich das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, sodass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten.

Diese Geschichte geht auf den dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard zurück. Es ist kein Tatsachenbericht, sondern eine Gleichnisgeschichte. Aber Gleichnis wofür?

Zunächst einmal kann sie ein Gleichnis dafür sein, wie wichtig es ist, aufmerksam zuzuhören und unvoreingenommen zu prüfen, ob es wahr oder falsch ist, was mir ein Gegenüber sagt.

Außerdem wurde diese Geschichte als ein Beispiel für die Situation von Theologinnen und Theologen gesehen. Sind diese etwa die Clowns, die wegen ihres scheinbar unzeitgemäßen Auftretens, ihrer Sprache und ihren Gottesdiensten nicht mehr ernst genommen werden? Aber: „Genügt der geistige Kostümwechsel, damit die Menschen freudig herbeilaufen und mithelfen, den Brand zu löschen, von dem der Theologe behauptet, dass es ihn gebe und dass er unser aller Gefahr sei?“ (Joseph Ratzinger 1968, damals Professor in Tübingen) Fragen zum Nachdenken, zum Antworten Suchen.

Ein ganz anderer Gedanke: Mich erinnert diese Clown-Geschichte an Begegnungen Jesu mit den Menschen seiner Zeit. Wie der Clown mit seiner Bitte um Hilfe bleibt auch Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes von vielen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer unverstanden. Seine Angehörigen meinen sogar, er sei „von Sinnen“, wahnsinnig, und viele der Schriftgelehrten behaupten, dass er mit Dämonen im Bund sei. (Mk 3,20-22) Und einige meinen, er sei ein verkappter Feldherr, der die römische Besatzungsmacht endlich mit Gewalt aus dem Land vertreiben würde. Ja, der Clown und Jesus, beide werden nicht verstanden.

Doch halt! In einem Punkt unterscheidet sich die Geschichte des Clowns von der Wirkungsgeschichte der Botschaft Jesu: Der Clown ist am Ende verzweifelt und weint; die Dörfler haben ihm nicht geglaubt und das Dorf brennt nieder. Doch bei Jesus gibt es auch Menschen, die von seinen Worten erreicht und von der Begegnung mit ihm berührt werden. Dann entsteht ein ganz anderer Brand: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“, so sagen die Emmaus-Jünger, nachdem ihnen der auferstandene Jesus Christus überraschend auf dem Weg begegnet war. (Lk 24,32)

Menschen mit einem für Gott brennenden Herzen, die verstehen, dass durch Jesus Christus eine besondere Nähe zwischen Gott und den Menschen möglich geworden ist; Menschen, die den Worten Jesu vertrauen und danach handeln; Menschen, die also bereit sind, ihr Leben darauf auszurichten, Gott und die Menschen zu lieben – diese Menschen heißt Jesus seine Schwestern und Brüder! Jede und jeder ist eingeladen, zur Familie Gottes zu gehören. Heute wie damals.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Einer der Sonntage in der nachösterlichen Zeit im Kirchenjahr heißt Kantate – Singet! Dieser Sonntag des Lobgesangs zu Gottes Ehre hat seinen Namen von Versen aus dem 98. Psalm: Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. […] Jauchzet dem Herrn, alle Welt, singet, rühmet und lobet! Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel! Mit Trompeten und Posaunen – und ich füge hinzu: mit Orgeln – jauchzet vor dem Herrn. (Ps 98,1a.4-6)

Puh, so viel Imperativ, Befehlsform, zumindest Aufforderung: Singet, jauchzet, rühmet und lobet! So viel Anspruch von außen! Das widerstrebt dem weit verbreiteten Denken, dass alles, was echt sein soll, tief aus unserem eigenen Inneren hervorquellen müsse. Unaufgefordert möglichst, wie von selbst, aus einer geheimnisvollen Personmitte, die wir mit den Worten Herz oder Seele benennen. Doch wer immer nur auf diesen Freudenschwall aus dem Innersten wartet, wird manchmal lange warten. Das Herz kann auch träge sein und die Seele kalt und leer. Karl Valentin beschrieb es einmal so: Gestern in mich gegangen – auch nichts los. Wenn in uns nichts los ist oder schlimmer noch, wenn in uns düstere Gedanken wabern, dann kann die Aufforderung „Kantate – Singet!“ tatsächlich ein guter Impuls sein. Unser Inneres wird nämlich auch von außen nach innen gestaltet, wenn wir uns ansprechen lassen und auf Resonanz in uns hoffen.

Apropos von außen nach innen: Es klingt wie eine SMS, eine Kurznachricht an die eigene Seele, wenn Paul Gerhardt schreibt: Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön – aber nicht nur ins Blaue hinein, sondern: – dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn. Und prompt antwortet die Seele: Ich will den Herren droben hier preisen auf der Erd; ich will ihn herzlich loben, solang ich leben werd. (Paul Gerhardt 1653, EG 302) Nun ist Paul Gerhardt ja nicht gerade für Kurznachrichten bekannt; und so entfaltet er in ursprünglich weiteren neun Strophen, wofür die singende Seele Gott loben kann. Gottes Schöpfungswerk wird angesprochen, „der Himmel und die Erde mit ihrem ganzen Heer, der Fisch unzähl’ge Herde im großen wilden Meer“. Danach auch die in der Bibel oft gebrauchten Kennzeichen für das Reich Gottes: die Hungernden werden satt, die Gefangenen frei, die Blinden sehend, die Gebeugten aufgerichtet usw. (vgl. Jes 35,5; Mt 11,5) Wenn wir dieses Lied singen, dann kann unser Mund schon mehr als wir um uns herum sehen können und auch mehr als unser Herz von sich aus kann. „Manchmal schleifen die Lieder das müde Herz hinter sich her, bis es wieder auf den eigenen Beinen stehen kann.“ (Fulbert Steffensky) Dabei müssen es gar nicht getextete Lieder sein; die Musik als solche kann diese aufrichtende Wirkung haben. Sie kennen vermutlich die Szene, wo der junge Harfenspieler David den schwermütigen König Saul mit seinem Saitenspiel aus dessen düsterer Depression befreit und ihn aufatmen lässt. Und ganz bestimmt kennen Sie selbst auch Situationen, wo Musik Ihr Gemüt verändert hat. Lieder und Musik können auf geheimnisvolle Weise neu fröhlich machen, zum Dankbarsein verlocken, festliche Stimmung hervorrufen, Jubel laut werden lassen, der Trauer einen Ausdruck geben und trösten und so vieles mehr. Ich wage zu sagen, dass durch Lieder und Musik Hoffnung, Liebe und sogar der Glaube einen Weg in unser Inneres finden können. Wo dies geschieht, geschieht freilich ein Wunder. Aber dann erst recht: Kantate, Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. […] Jauchzet dem Herrn, alle Welt, singet, rühmet und lobet! Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel! Mit Trompeten und Posaunen – und mit Orgeln – jauchzet vor dem Herrn.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Ostern/April 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Im Lebenslauf jedes Menschen gibt es Ereignisse, die das Leben in ein Davor und ein Danach gliedern. Sehr schöne und sehr leidvolle Ereignisse haben diese Eigenschaft. Die Geburt eines Kindes z.B. krempelt viele bisher gewohnte Tagesabläufe um und verändert das ganze Lebensgefühl. Eine schwere Krankheit und erst recht der Tod eines geliebten Menschen sind leidvolle Einschnitte, nach denen das Weiterleben nie mehr so sein wird, wie es zuvor war. Der Kriegsausbruch in der Ukraine stellte die bis dahin geltende Sicherheitsarchitektur in Europa radikal in Frage und verlangt nach ganz neuen Antworten. „Wir erleben eine Zeitenwende.“ (Bundeskanzler Olaf Scholz). Und wir alle merken: Tatsächlich! So, wie es davor war, ist es danach nicht mehr.

Eine Zeitenwende noch viel tiefgreifenderen Ausmaßes ist Ostern, genauer: die Auferweckung Jesu. Mit dieser Zeitenwende ist ein Sondervermögen „Ostern“ verbunden. Ich möchte es in drei Sätzen beschreiben: 1. „Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln.“ (Dietrich Bonhoeffer) – 2. Seit Ostern gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr, weder bei Menschen noch bei Situationen. – 3. Der Tod hat in letzter Instanz seine Macht verloren.

Deshalb gliedert Ostern grundlegend alle Zeit in ein Davor und ein Danach. Weil wir in den Zeitraum des Danach gehören, können wir singen: „ER ist erstanden von dem Tod, hat überwunden alle Not…“ (EG 103,4) – und das nachfolgende |:Halleluja-ha-ha:| klingt, als würden wir Not und Tod auslachen. Es hört sich an, als gehörten wir, denen doch der Tod am Ende unseres Lebens erst noch widerfährt, zu jenen, die zuletzt und also am besten lachen. Geb’s Gott, dass wir das hinkriegen.

Der Glaube an die Auferstehung kann es aber beim Auslachen des Todes nicht belassen. „Wir sind Protestleute gegen den Tod“, so hat Christoph Blumhardt (der Jüngere) die Christinnen und Christen bezeichnet. Blumhardt war württembergischer Pfarrer und Landtagsabgeordneter. Sein Protest galt nicht dem Tod am Lebensende; wir sind endliche Wesen und unser Leben endet in der Hand Gottes. Nicht hinnehmbar war für ihn – und sollte es für uns auch nicht sein –, dass Not und Tod Menschen mitten im Leben treffen.

Der Glaube an die Auferstehung protestiert gegen den Tod und arbeitet für das Leben, wo immer es bedroht ist, sei es durch Hunger, sei es durch missbrauchte Macht, sei es durch die Folgen des Klimawandels, sei es durch Folter und Krieg. Ja, der Osterglaube ist auch Arbeit. Es erfordert vielfältige Anstrengungen, Menschen in Not zu schützen und ihnen tatkräftig zu helfen, wo immer Leib und Leben bedroht sind.

Der frühere Tübinger Theologieprofessor Eberhard Jüngel hat beides zusammengebracht, das Ostergeschehen und den Einsatz für das Leben. Folgendes Zitat von ihm findet sich im Ev. Gesangbuch (S. 455): Wo erfahren wird, dass Gott für das Heil des Menschen alles getan hat, da kann man für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun. Zu dem, was Gott zu unsrem Heil getan hat, gehören neben der Auferweckung Jesu natürlich auch das Leben Jesu, sein Leiden und sein Tod am Kreuz. Kreuz und Auferstehung gehören zusammen.

Es gibt eine besondere Stelle in der Marienkirche vor dem Altar, von wo aus dieser Zu-sammenhang augenfällig wird: man kann durch die Mitte des Altar-Kreuzes hindurch auf die Darstellung des auferstandenen Christus über dem Heiligen Grab im Chorraum schauen. Suchen Sie diesen Blick gerne einmal für sich auf.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - März 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Leuchten – ja: Leuchten! Das ist jetzt und hier natürlich nicht der Titel einer Abhandlung über Beleuchtungskörper, über Glühbirnen, Energiesparlampen und LED-Lichter. Auch nicht über Altarkerzen. Leuchten! – das ist ein Teil des Mottos zur Fastenaktion der ev. Kirche für die Passionszeit 2023. Komplett heißt dieses Motto: Leuchten! – 7 Wochen ohne Verzagtheit. Das klingt unglaublich anspruchsvoll. Leuchten? Unverzagt leben? Wie schnell kann dieser Vorsatz an den sattsam bekannten Krisen und Kriegen zerschellen!

Oder auch an der eigenen Lebensgeschichte. Ich denke an einen Mann, der in seinem privaten Leben neben hellen Abschnitten unsagbar viel Leid erleben musste. Noch keine zehn Jahre alt, war er nach dem Tod beider Eltern Vollwaise. Nicht nur einmal starb eines seiner Kinder wenige Tage oder Wochen nach der Geburt. Als seine Frau starb, war der Mann gerade einmal 35 Jahre alt. Auch beruflich hatte er alles andere als einen leichten Weg. Mehrfach wechselte er die Stelle, manchmal aufgrund von Querelen mit seinen Arbeitgebern. Genug Gründe also zum Verzagen. Und dennoch schuf dieser Mann ein musikalisches Lebenswerk von unvergleichlicher Fülle und Schönheit. Ein Leuchten strahlt aus seiner Musik, die immer wieder beeindruckt und berührt. Die Rede ist von Johann Sebastian Bach, der am 21. März seinen 338. Geburtstag hatte. Albert Schweitzer schrieb über ihn: „Musik ist für ihn Gottesdienst. Bachs Künstlertum und Persönlichkeit ruhen auf seiner Frömmigkeit. Für ihn verhallen die Klänge nicht, sondern steigen als ein unaussprechliches Loben zu Gott empor.“ Und von Friedrich Nietzsche ist überliefert: „In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört. Jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Bewunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“

Das Leuchten, das Nietzsche in Bachs Musik erkannt haben mag, hat er bei den seiner Ansicht nach missmutigen christlichen Zeitgenossen anscheinend vermisst, wenn er diese mit folgendem Satz kritisiert: „Die Christen müssten erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Das hört sich an, als fordere er das Leuchten ein. Hat er Recht? Ich bin mir da nicht so sicher. Der Glaube geht über die Widerwärtigkeiten im Leben schließlich nicht einfach lächelnd hinweg. Der Glaube führt tiefer in die Wirklichkeit hinein. Er nimmt einerseits das Gute und Schöne wahr, verschließt andererseits aber nicht die Augen vor dem Schlimmen. Mit beidem im Blick haben wir als Christenmenschen Grund zum Leuchten. Wir leben nämlich aus einem Überschuss an Zuversicht, die stärker ist als die Verzagtheit. Wir glauben an Jesus Christus, der Leid und Tod kennt, ja sogar selbst durchleiden musste. Das bedenken wir in der Passionszeit. Doch mit einem Auge blicken wir auch schon voraus auf Ostern. Der Sonntag Laetare (Freut euch) liegt mitten in der Passionszeit und wird auch Klein-Ostern genannt: Freut euch, Jesus ist auferstanden; Gott hat ihn vom Tod auferweckt. Leid, Schrecken und Tod sind aus der Welt zwar nicht verschwunden, aber in letzter Instanz entmachtet. – Darum lässt der Glaube an den auferstandenen Christus uns leuchten. Er lässt uns sogar verschwenderisch leuchten, nicht dosiert wie eine Energiesparlampe. Das Leuchten im Glauben speist sich schließlich aus der ’dynamis’, wie das griechische Neue Testament die Geistkraft Gottes nennt. Und anders als bei den modernen LED-Lichtern dürfen Christinnen und Christen beim Leuchten gerne auch noch Wärme abgeben – wie die Glühbirnen früherer Zeiten oder wie Kerzen es tun.

Bei wem das Leuchten nicht ohne Verzagtheit geht, der darf das Motto wählen: Leuch-ten! – trotz Verzagtheit. Und das auch über die 7 Wochen Passionszeit hinaus.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Februar 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Möge uns Gott nicht mehr mit solchen Herausforderungen konfrontieren“, so wurde am 11. Februar der türkische Staatspräsident in der Tagesschau übersetzt. Wer könnte diesen Wunsch angesichts der furchtbaren Folgen des Erdbebens in der Türkei und in Sy-rien nicht verstehen!? 50.000 Tote, eine noch größere Zahl an verletzten und all ihrer Habe beraubte Menschen! Auch für Christinnen und Christen kann dieses Übermaß an Leid eine Herausforderung ihres Glaubens an einen gütigen Gott mit sich bringen. Sie fragen sich, ob Gott dieses Geschehen nicht hätte verhindern können. Hätte er nicht eine Welt erschaffen können, in der es den Menschen bedrohende Naturerscheinungen gar nicht gibt? Muss die Erde ein so unruhiger Planet sein, wo Bewegungen in der Erdkruste und deren Folgen, nämlich Erdbeben, Vulkanausbrüche und Flutwellen, alles Leben bedrohen?

Das sind Fragen, die keine einfache und schnelle Antwort ermöglichen. Ich sage mir, dass diese Welt, die wir als Gottes gute Schöpfung bezeichnen, vielleicht die bestmögliche Welt ist. Zu dieser guten Schöpfung Gottes gehört, dass die Natur bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Dies gilt auch für die Bewegungen in der Erdkruste. Zur Katastrophe werden Naturphänomene nicht zuletzt deshalb, weil die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten für uns oft noch nicht ausreichend durchschaubar sind. Orte und Zeiten von katastrophalen Naturereignissen sind schwer vorhersehbar und meist nicht berechenbar. Viele Naturkatastrophen ereignen sich plötzlich. Diese Plötzlichkeit ihres Auftretens und die Wucht der Zerstörungen lassen uns oft nur die negative Seite von gewaltigen Naturphänomenen wahrnehmen. Dabei sind es zum Beispiel gerade die Bewegungen in der Erdkruste, die zu einer Reihe von Begleiterscheinungen führen, die für uns Menschen lebensnotwendig sind. Bodenschätze wie Kohle, Erdöl und Erdgas, aber auch allerhand Mineralien, Salze und Erze bis hin zum Gold, entstanden und entstehen durch Hebungen und Senkungen der Erdkruste und durch Vulkanismus. Aus vulkanischem Gestein gebildete Böden sind besonders fruchtbar. Gebirge – gewaltige Naturräume für Pflanzen und Tiere – sind gefragte Lebens- und Erholungsräume für Menschen; ohne Plattenbewegungen gäbe es sie nicht. Diese Zusammenhänge zeigen, dass unsere Erde eine sich ständig wandelnde Werde-Welt ist. Ihre Veränderungen können zwar einerseits katastrophale Ereignisse auslösen, andererseits aber genau darin lebenswichtige Erscheinungen zum Vorteil der Menschen hervorbringen. Die positiven Wirkungen von Naturereignissen nehmen wir in der Regel als ganz selbstverständlich hin und bringen sie nicht mit unserem Glauben an Gott zusammen. Könnten sie uns nicht dankbar werden lassen gegenüber einem Schöpfer-Gott, der mit einer sich ständig verändernden Erde vielleicht die beste aller möglichen Welten hervorgebracht hat?!

Doch wahr bleibt: Durch Naturereignisse entsteht Leid. Naturkatastrophen sind oftmals Ereignisse, für die Menschen nicht verantwortlich gemacht werden können. Wahr ist freilich auch, dass Schäden aus Naturereignissen teilweise durch menschliches Handeln noch vergrößert werden. Nachrichten aus den Erdbebengebieten zeigen uns z.B., dass mangelhafter Erdbebenschutz beim Bau von Gebäuden und schlechtes Krisenmanagement das Ausmaß der Schäden und das Elend der Menschen verstärkt haben.

Kann es für Menschen in Katastrophengebieten ein Trost sein, darauf zu vertrauen, dass Christus – wie in der Erzählung von der Sturmstillung (Mt 8, 23-27) – in unserer unruhigen Werde-Welt „mit an Bord“ ist? Und dass sich die Situation bald wieder beruhigt?

Vielleicht ist es ein Trost nur dann, wenn wir, die wir nicht direkt betroffen sind, helfen, helfen, helfen …

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Februar 2023

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Alle haben sie es gesehen. Alle, die damals eng gedrängt in jenem Haus in Kapernaum versammelt waren. Sogar die draußen standen, weil drinnen kein Platz mehr war, haben es gesehen. Zuerst war nur zu bemerken, dass sich ein paar Männer auf dem flachen Dach irgendwie zu schaffen machten. Dann waren die Schläge und das Kratzen zu hören – und dann ging es auch schon los: die ersten Steinchen und Lehmbrocken stürzten herab, dazu kleine Äste und Stroh. Es staubte fürchterlich. Alle schauten sie nach oben. Bald klaffte ein großes Loch im Dach. Die meisten waren furchtbar erschrocken, manche schimpften lautstark „Seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen?!“, andere waren fast etwas belustigt. Alle haben es gesehen, was danach geschah. Vier Männer ließen durch das Loch einen Mann herunter, der in einer Decke lag. Als er unten auf dem Boden angekommen war, erkannten sie ihn. Es war Jochanan, der Gelähmte. Ein Pflegefall, schon lange. Ein hoffnungsloser Fall. Mit aufgerissenen Augen und in sich verkrümmt lag er da, genau vor Jesus. Alle haben es gesehen. Jesus auch. – Genau an dieser Stelle steht in der Erzählung des Evangelisten Markus etwas Erstaunliches. Dort heißt es: „Da nun Jesus ihren Glauben sah…“ (Mk 2,5) Hä?! Wie jetzt? Das Dach wird aufgebrochen, Schutt regnet herab, der Gelähmte wird abgeseilt, die unterschiedlichen Reaktionen der Anwesenden – das alles war zu sehen gewesen, ja. Aber Jesus hat noch mehr gesehen. „Da nun Jesus ihren Glauben sah…“. In diesem tatkräftigen Zupacken der Männer hat Jesus anscheinend deren Glauben gesehen. Er hat in diesem zweifellos krassen Handeln deren unerschütterliches Vertrauen gesehen. Das Vertrauen in ihn, Jesus, und die Überzeugung, dass es gut ist für ihren gelähmten Freund, wenn sie ihn zu Jesus tragen. Jochanan, ein hoffnungsloser Fall? Und die vier Freunde von allen guten Geistern verlassen? Nein! Das genaue Gegenteil ist der Fall. Am Ende gehen sie mit ihrem geheilten Freund ihrer Wege. Und ich nehme an, sie haben später alle geholfen, das Dach zu reparieren.

„Da nun Jesus ihren Glauben sah…“. Sieht Jesus denn auch unseren Glauben? Also das Vertrauen in ihn und die Überzeugung, dass es gut ist, Menschen und Situationen zu Jesus zu tragen? Ich meine schon. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ So bekennen wir es in der Jahreslosung. Wir müssen ganz gewiss niemandem auf’s Dach steigen und Sachbeschädigung anrichten. Hungrigen zu essen geben und Durstigen zu trinken, Fremde aufnehmen und Nackte kleiden, Kranke besuchen und Gefangene begleiten – so fasst Jesus einmal gerechtes, gläubiges Handeln zusammen. (Mt 25,35f) In diese Sätze darf jede und jeder hineinlesen, was sie oder er für andere Menschen tut, anderen zugut. Jesus sieht das.

Und wo Möglichkeiten und Muskelkraft fehlen, gilt: Auch das Gebet trägt! Es trägt, wie die Wolldecke den gelähmten Freund getragen hat. Ob wir nun als Einzelne oder als Gebetskreis vor Gott sind, ob wir Menschen im Gebet nennen, die uns am Herzen liegen oder die in Not sind, oder Situationen wie z.B. ein verwickelter Familienstreit, Sorgen wegen der Gesundheit oder die schrecklichen Kriege auf der Erde – Gott hört das und sieht das und er sieht darin unseren Glauben. Und lassen wir uns durch nichts vom Beten abhalten, nicht durch empörte oder durch belustigte Reaktionen anderer. Bleiben wir in der Fürbitte beharrlich wie die Freunde des Gelähmten, auch wenn wir vielleicht noch lange das Sattsein der Hungernden, das Sehen der Blinden, das Hören der Tauben, das Freisein der Gefangenen und das Gehen der Lahmen vermissen müssen.

Einmal wird es so sein… Gott sei Dank!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Dezember 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein…“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 32) – Ausgerechnet Bethlehem!?

Rudolf Otto Wiemer beschrieb diesen Ort einmal so:

Ein Ort in allen vier Winden, ein Ort mit Tauben und Blinden – Bethlehem.

Ein Ort, so arm wie verloren, mit verschlossenen Herzen und Toren – Bethlehem.

Ein Ort mit Gassen und Straßen, in denen Flüchtlinge saßen – Bethlehem.

Ein Ort, mit Spöttern und Frommen, ein Ort, wo alle herkommen – Bethlehem.

Ein Ort, wo wir alle hingehen, das Kind in der Krippe zu sehen – Bethlehem.

Ein Ort, wo wir knien auf Erden: Gott will unser Bruder werden – Bethlehem.

Das Gedicht zeigt uns in den ersten Zeilen die schiere Alltäglichkeit dieses kleinen Ortes. Arm und verloren lag es im judäischen Bergland in einer abgelegenen Provinz des Römischen Weltreichs. Das ist freilich kein Grund, Bethlehem kleinzureden. Ganz im Gegenteil. Ich möchte das mit einem dreimaligen L begründen. Das erste L steht für das Leben. In Bethlehem ließ es sich durchaus leben. Es hieß, der Ort sei eine Art Backstube der Region; das zeigt schon der Ortsname: Beth læchæm (hebr.) heißt Haus des Brotes, manche sagen Brothausen. Brot ist ein Grundnahrungsmittel, ein Mittel zum Leben. Man verweigert es nicht einmal seinem Feind. (Sprüche 25,21) Der in Brothausen geborene Jesus wird sagen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern. (Joh 6,35)

Das zweite L steht für die Liebe. In Bethlehem hat sich die vielleicht schönste Liebesgeschichte der Hebräischen Bibel zugetragen. Etwa um das Jahr 1300 v.Chr. ging in Brothausen das Brot aus. Eine Hungersnot vertrieb die Menschen aus der Gegend, so auch Noomi mit ihrem Mann Elimelech und den beiden Söhnen. Die drei Männer starben in der Fremde und Noomi kehrte mit ihrer Schwiegertochter Rut nach Bethlehem zurück. Dort gewinnt die moabitische Rut, die sich zum Gott Israels bekennt, die Liebe des wohlhabenden Getreidebauern Boas. Trotz schwieriger Umstände heiraten sie schließlich. Sie werden zu den Stammeltern des späteren Königs David und damit ein Jahrtausend später auch zu den Stammeltern von Jesus. Der in Bethlehem geborene Jesus wird durch sein Reden und Handeln deutlich machen, dass Gott nur Liebe ist. Allumfassende Liebe.

Bethlehem steht für das Leben und die Liebe, aber auch für das Leiden. Das dritte L. Unweit des Ortes liegt das Grab Rahels, der Frau Jakobs. Sie starb bei der Geburt eines Kindes. Im Buch Genesis (35,18) heißt es: „Als ihr aber das Leben entwich und sie sterben musste, nannte sie ihn Ben-Oni [Sohn des Schmerzes], aber sein Vater nannte ihn Ben-Jamin [Sohn des Glücks].“ Der in Bethlehem geborene Jesus wird sich ins Leiden schicken, weil er nicht anders sterben kann als er gelebt hat, nämlich in der Hingabe an uns, die er seine Freunde, seine Schwestern und Brüder nennt. Jesus leidet aus Liebe und gewinnt auf diese Weise für uns ein Leben, das über den Tod hinausweist. Dies bedenken wir nächstes Frühjahr in der Passions- und Osterzeit.

Doch jetzt gehen wir erst einmal auf Weihnachten zu:

Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein.

Das hab ich auserkoren, sein eigen will ich sein. /

In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab;

mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab. /

O Kindelein, von Herzen will ich dich lieben sehr

in Freuden und in Schmerzen, je länger mehr und mehr. /

Dazu dein Gnad mir gebe, bitt ich aus Herzensgrund,

dass dir allein ich lebe, jetzt und zu aller Stund.

(Friedrich Spee, 1637, EG 32)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Abendmahl – mal anders

Darstellungen des letzten Abendmahles Jesu mit seinen Jüngern gibt es viele in der christlichen Kunst. Eine der bekanntesten ist das Wandgemälde von Leonardo da Vinci. Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen, gilt es als Meilenstein der Renaissance. Jeder der zwölf Jünger Jesu ist in Kleidung, Haltung, Gestik und Mimik individuell und von allen anderen wohlunterschieden gemalt. Und das natürlich völlig zurecht. Nach dem, was wir aus den Evangelien wissen, gehören Jüngere und Ältere dazu, Verheiratete und Ledige, Fischer, mit den Römern kollaborierende Zöllner und die Römer bekämpfende Zeloten, Zurückhaltende und Impulsive, Glaubensstarke und Zweifler. Eine illustre Gesellschaft. Man könnte auch sagen, ein Spiegel der Gesellschaft, vielleicht sogar auch unserer Gesellschaft heute.

In modernen Abendmahlsdarstellungen sind die Jünger oftmals stilisiert wiedergegeben. Äußerlich gleicht einer dem anderen. Man könnte meinen, es handle sich zwölfmal um ein und dieselbe Person. Das bringt mich auf ein Gedankenspiel.

Ich stelle mir einen hellen und freundlichen Raum vor, mit einem langen Tisch, an dessen Haupt Jesus sitzt. Um den Tisch herum sitze ich (!) in meinen vielerlei Gestalten und Ausprägungen. Zwölf Mal ich. Ja, so etwas lässt sich denken, denn keiner von uns ist ein homogener Klotz. Ich meine, es ist so, wie es Michel de Montaigne ausgedrückt hat: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.“ (Michel de Montaigne, Essais, Zweites Buch, 1)

Ich schaue wieder zum langen Tisch und sehe: Mein ganzes, vielgestaltiges Wesen ist da, alles, was zu meiner Person gehört. Manche Gestalten kenne ich gut und ich freue mich, dass ich das bin. Glück, Freude, Erfolg. Andere Gestalten sind mir gar nicht bewusst. Verschwommene Erinnerungen und Verdrängtes. Und wieder andere schockieren mich. Meine Schuld, meine Ängste und manchmal auch mein zunehmendes Alter. Ich erkenne, das hohe Alter ist ein Räuber, der mir nach und nach etwas wegnimmt, die glatte Haut, manche Haare, mein Hörvermögen. Und so bin ich also um den Tisch versammelt. Ich – eine illustre Gesellschaft. Und am Haupt des Tisches, ich erinnere daran, sitzt Jesus. Er hat mich eingeladen, meine vielen Personfetzen. Keiner wird vergessen, keiner wird abgelehnt. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Joh. 6,37), so lautet die Jahreslosung für das Jahr 2022. Was für eine wunderbare Zusage!

Zu Jesus kann ich kommen, wie ich bin – so höre ich Menschen manchmal sagen. Ja, schon, aber hier ist mein Gedankenspiel noch nicht zu Ende: Zu Jesus kann ich kommen, wie ich bin, aber ich muss nicht so bleiben, wie ich bin. Die Nähe Jesu kann mich verwandeln. Ich stelle mir vor, dass das nicht geht, indem Jesus mir lautstark die Leviten liest. Das hat er am Tisch des Oberzöllners und Oberschlawiners Zachäus auch nicht getan. Und doch hat Zachäus seinen Lebenswandel geändert. In der Nähe Jesu begegnet Zachäus die Liebe Gottes. Er sieht sein Leben ganz klar vor sich im Licht dieser Liebe und findet den Mut, es zum Guten zu verändern. Das wünsche ich mir und uns allen auch.

Und damit kommt mein Gedankenspiel zu einem guten Schluss.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Vom 8. bis 15.10.2022 fand die Woche des Sehens statt. Diese jährlich im Oktober statt-findende bundesweite Aufklärungskampagne macht auf die Bedeutung eines guten Sehvermögens, auf die Ursachen von Blindheit und auch auf die Situation blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland und in den ärmsten Ländern der Welt auf-merksam.

Nicht sehen zu können, das stellen wir Sehende uns meist als etwas sehr Schreckliches vor. Ich habe einmal einen blinden Freund gefragt, ob er sein Blindsein als Last empfindet. Seine Antwort: „Ich habe die Blindheit angenommen. Das war nicht einfach. Besonders in jungen Jahren war’s schon hart.“ Und zur Frage, wie er im Alltag zurechtkomme, meinte er: „Alles muss eben seinen Platz haben. Manchmal passe ich nicht auf, z.B. wo ich beim Heimkommen meinen Hut hinlege, wenn gleich ein Telefonanruf dazwischenkommt. Dann wirst du hinterher gestraft mit der Sucherei. Kochen muss ich nicht; Gott sei Dank gibt es ‚Essen auf Rädern’, da bin ich sehr dankbar.“ Ganz wichtig ist für ihn der weiße Stock. Mit ihm können blinde Menschen in gewisser Weise sehen, wenn sie draußen unterwegs sind. Mein blinder Freund und ich lachen immer beide, wenn ich seinen weißen Stock als sein Stielauge bezeichne.

Zur Zeit Jesu war das Blindsein viel schrecklicher als heute. Hilfsmittel gab es kaum. Damals, beim blinden Bartimäus, von dem der Evangelist Markus erzählt, kam noch da-zu, dass die Menschen gedacht haben, Krankheit sei eine Strafe Gottes. So wurde Bartimäus zum krassen Außenseiter, zum Bettler. Da ist es kein Wunder, dass er geschrien hat „Jesus, Du Sohn Davids, erbarme dich meiner“. Jesus wendet sich ihm zu und heilt ihn – und Bartimäus sieht, so wie wir sehen. Das allerdings ist ein Wunder. Das Wunder Nr. 1: Bartimäus sieht, wie sehenswert und wunderschön die Welt ist, die Berge, die Täler, das Land, der Himmel und die Wolken. Das und noch viel mehr sieht Bartimäus. In einem Singspiel, das Ende Juli in der Sondelfinger Johanneskirche aufgeführt wurde, lobt er Gott in einem Lied. Darin heißt es: Ich seh’ über allem die gütige Hand des Herrn. Das allerdings sieht er nicht mit seinen nun geheilten Augen. Das sieht Bartimäus mit seinem Herzen, mit seinem Innersten. Da gibt es nämlich noch ein zweites Augenpaar, das Jesus gleich noch mit öffnet. Und das ist das Wunder Nr. 2: Ich seh’ über allem die gütige Hand des Herrn.

Au weia! Gottes gütige Hand über allem?! Dafür bin ich und sind wir wohl alle zuweilen ganz schön blind. Ja, auch als Sehende können wir blind sein: blind vor Sorgen, blind vor Schmerz, blind vor Wut. Hass macht blind, Gleichgültigkeit auch und noch vieles andere. Bei solcher Blindheit nehmen unsere Mitmenschen schon mal Abstand von uns oder wir bringen uns damit selbst ins Abseits. Wie gut wäre es dann, wie Bartimäus zu beten oder gar zu schreien: „Jesus, erbarme dich meiner!“ Und wie gut, dass die Liebe nicht blind macht, wie es ein Sprichwort fälschlicherweise behauptet. Liebe macht nicht blind, sondern sehend. Deshalb sieht uns Jesus mit seinen Augen der Liebe, wie er Bartimäus gesehen hat, und er nimmt sich unser an.

So können auch wir Sehenden das Wunder Nr. 2 erleben. Unser Herz, unser Innerstes bekommt „offene Augen“: Ich seh’ über allem die gütige Hand des Herrn. Was ich auch immer kann – ich verdanke es letztlich Gottes Güte. Was immer ich an Gutem habe – ich verdanke es im Grunde Gottes Güte. Von Bartimäus heißt es, dass er Jesus auf seinem Weg nachfolgte. (Mk 10,52) Vielleicht hat er gedacht: Gott hat mir so viel Gutes gegeben. Ich vertraue ihm. Deshalb möchte ich mich von ihm führen lassen. Ich will auf sein Wort hören. Ich will seinen Willen tun, so gut ich es kann und weiß.

Ich wünsche uns allen den Blick für die gütige Hand Gottes und den Mut Jesus nachzufolgen.

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - August 2022


Sich zu verhören, d.h. etwas anderes zu hören als was tatsächlich gesagt wurde, ist keine Frage des Alters und hat nicht unbedingt mit Schwerhörigkeit zu tun. Marion Gräfin Dönhoff schreibt in ihren Kindheitserinnerungen: „Das Gebet: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast …» hatte ich nie geschrieben gesehen, sondern immer nur gehört. So wunderte ich mich denn lange, warum wohl das Gebet mit einem Komma anfinge: Komma, Jesus, sei unser Gast …“

Sie hatte sich verhört und die Ungereimtheit einfach kindlich hingenommen.

Mir ist als Kind Ähnliches widerfahren. Im Kindergottesdienst haben wir, des Lesens noch unkundig, Kirchenlieder gelernt, indem sie uns immer wieder vorgesungen wurden. Unter anderen auch das Paul-Gerhardt-Lied „Lobet den Herren, alle die ihn ehren“ (EG 447). Die sechste Strophe hörte ich und sang ich danach jahrelang so: O treuer Hüter, Brunnen aller Güter, / ach lass doch ferner über unser Leben – so weit alles richtig, aber jetzt kommt’s / bei Tag und Nacht Dein Hut und Güte schweben. / Lobet den Herren! Tatsächlich heißt es: … ach lass doch ferner über unser Leben / bei Tag und Nacht Dein Huld und Güte schweben. Das Wort Huld kannte ich als Kind nicht; wie hätte ich es also damals hören können. Ich hörte „Hut“ und fand es schon ein wenig lustig, dass da über mir ein Hut schweben solle. Damals habe ich das aber einfach kindlich hingenommen.

Heute finde ich meine kindliche Version gar nicht so schlecht. Sie ergibt für mich einen Sinn, anders als der Verhörfehler von Frau Dönhoff. Ich trage gelegentlich einen Hut, der mich vor einem Sonnenbrand auf der Platte oder vor Regen schützen kann. Eine Winter-Mütze gibt wohlige Wärme, ein Helm bewahrt vor Kopfverletzungen. Insofern ist es ein wohltuendes Bild, dass im übertragenen Sinn Gott einen Hut über mich hält und mich beschützt, mich be-hüt-et.

Inzwischen weiß ich natürlich auch, dass mein Verhör-Wort „Hut“ auch noch eine andere Bedeutung hat. Diese kommt z.B. in einem Gedicht von Jochen Klepper zur Sprache: Ich liege, Herr, in deiner Hut und schlafe ganz mit Frieden. Dem, der in deinen Armen ruht, ist wahre Rast beschieden. Hier ist „Hut“ keine schützende Kopfbedeckung, sondern beschreibt die fürsorgliche Arbeit eines guten Hirten, der seine Schafe hütet und den Anvertrauten in seiner Obhut Geborgenheit schenkt und sie be-hüt-et.

Der Hut oder die Hut, beides hat also mit Schutz und Geborgenheit zu tun. Beides kann mitgedacht werden, wenn einem jemand einen behüteten Tag wünscht.

Übrigens, mit dem uralten Wort „Huld“, das Paul Gerhardt verwendet hat und das heutzutage auch Erwachsene kaum mehr kennen, wurde früher der Begriff misericordias aus der lateinischen Fassung der Bibel ins Deutsche übersetzt. Miseriis cor dare, den Elenden das Herz schenken – da tritt die ursprüngliche Schönheit des dafür verwendeten Wortes Huld unmittelbar hervor.

Bei Tag und Nacht Gottes Huld und Güte, das wünsche ich uns allen, und dass wir dann nicht vergessen: Lobet den Herren alle, die ihn ehren, lasst uns mit Freuden seinem Namen singen und Preis und Dank zu seinem Altar bringen. Lobet den Herren!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Oktober 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken, alles geht vorüber, Gott ändert sich nicht. Geduld erreicht alles. Wer sich an Gott hält, dem kann nichts fehlen. Gott nur genügt.

Nada te turbe, nada te espante; todo se pasa, Dios no se muda. La paciencia todo lo alcanza. Quien a Dios tiene nada le falta. Sólo Dios basta.

Dieses Gedicht wird traditionell der spanischen Ordensfrau Teresa von Avila zugeschrieben. Sie wurde von Papst Paul VI. als erste Frau im Jahr 1970 zur Kirchenlehrerin ernannt. Am 4. Oktober 2022 war der 440. Todestag Teresas.

Ich schätze an ihr, dass sie Ihr Glaubensleben und insbesondere das Beten als eine Freundschaft mit Gott versteht. In ihrer Lebensbeschreibung (Vida) heißt es:

Meiner Meinung nach ist inneres Beten nichts anderes als Verweilen bei einem Freund,mit dem wir oft und allein zusammenkommen, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt. (Vida 8,5) Und an anderer Stelle: Ich kann mit ihm umgehen wie mit einem Freund, obwohl er doch Herr ist. Denn ich erkenne, dass er nicht ist wie die, die wir hier als Herren haben, deren ganzes Herrsein sich auf ‚Autoritätsprothesen’ gründet. (Vida 37,5)

Wie frisch und frech das klingt!

Teresa ist wichtig, dass der Glaube das ganze Leben umfasst und sich also nicht nur auf besondere Gebetszeiten beschränkt. Ihren Mitschwestern rät sie: Wenn ihr verpflichtet seid, „äußere“ Aufgaben zu übernehmen, so bedenkt, dass euch der Herr auch in der Küche inmitten der Kochtöpfe nahe ist und euch sowohl innerlich wie äußerlich beisteht. (Klostergründungen 5,7)

Eines der Teresa zugeschriebenen Gebete beginnt dann auch so: Herr der Töpfe und Pfannen, ich habe keine Zeit, eine Heilige zu sein und Dir zum Wohlgefallen in der Nacht zu wachen. […] Mache mich zu einer Heiligen, indem ich Mahlzeiten zubereite und Teller wasche. Nimm an meine rauhen Hände, weil sie für Dich rauh geworden sind. Kannst du meinen Spüllappen als einen Geigenbogen gelten lassen, der himmlische Harmonien hervorbringt auf einer Pfanne? Sie ist so schwer zu reinigen und ach, so abscheulich… usw.

Ein anderes Gebet möchte ich in ganzer Länge wiedergeben:

O Herr, du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde. Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen. Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht rechthaberisch zu sein. Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit erscheint es mir ja schade, sie nicht ständig weiterzugeben, aber du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte. Bewahre mich davor, Einzelheiten endlos aufzuzählen und verleihe mir Flügel, zum Kern der Sache zu gelangen. Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. Ich erflehe nicht die Gabe, mir Leidensberichte anderer mit Freude anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen. Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, es ihnen auch zu sagen. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann. Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte keine Heilige sein – mit ihnen lebt es sich so schwer –, aber ein alter Griesgram ist das Werk des Teufels.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - August 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

Im Urlaub auf Rügen haben meine Frau und ich die Kirchen in unserer Umgebung besucht. In zwei von drei Gotteshäusern zeigte das Altarbild die biblische Szene mit Jesus und dem sinkenden Petrus. Petrus war bekanntlich aus dem Boot gestiegen und hatte sich mit viel Gottvertrauen auf’s Wasser gewagt, um Jesus entgegen zu gehen. Aber auf einmal merkte er, wie stark der Wind war. Da bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Herr, rette mich!« Sofort streckte Jesus ihm die Hand entgegen und hielt ihn fest. (Mt 14,30f) Diese Geschichte muss die Rügener beeindruckt haben – und ich kann das schon verstehen. Als Bewohner einer Insel mit einer langen Küstenlinie hatten viele nah am Wasser gebaut. So konnten sie als Fischer ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch sie hatten sich auf’s Wasser gewagt, anders als Petrus, aber viele wahrscheinlich mit ähnlichem Gottvertrauen – und waren dann auf der Ostsee oder in einem Bodden in manche stürmische und gefährliche Situation geraten. Und so stärkten sie ihre Zuversicht auf Gottes Hilfe mit dieser Geschichte und mit dem Altarbild vom sinkenden und dann geretteten Petrus. Ein Altarbild für Menschen, die nah am Wasser gebaut haben. Wir hier an der Echaz kennen Bedrohungen für Leib und Leben durch das Wasser kaum – abgesehen von den Betzingern, die ein um’s andere Mal mehr als nasse Füße bekamen. Wir haben eben mehrheitlich nicht nah am Wasser gebaut. Oder doch? Es gibt ja auch die Redensart „nah am Wasser gebaut haben“ oder „nah am Wasser gebaut sein“, eine Redensart, die das Weinen meint. Neulich habe ich gelesen, dass jeder Mensch in seinem Leben 69,5 Liter Tränen weint. Der eine mehr, die andere weniger, aber knapp 70 Liter im Durchschnitt. Haben oder sind wir also nicht alle nah am Wasser gebaut? Gründe für das Weinen gibt es genug: eine Verlusterfahrung, eine Auseinandersetzung, Mitansehen von Leid, die Erfahrung eigenen Versagens, aber natürlich auch das Erleben eines positiven, besonders schönen Ereignisses, um nur ein paar zu nennen. All das ist mit starken Emotionen verbunden, mit Empfindungen, die mit den Gegensatzpaaren unglücklich/glücklich, traurig/froh, niedergeschlagen/beschwingt beschrieben werden können. Und manchmal ist es Musik, die solche Empfindungen weitab der konkret durchlebten Situation hervorrufen kann. Dann kann Weinen sogar schön sein, befreiend und reinigend. Ja, oft ist es gut, nah am Wasser gebaut zu sein. Es ist gut, dass wir weinen können.

Hat Jesus eigentlich geweint? Ganz sicher hat er das. Zwei Beispiele aus den Evangelien: Als Jesus sich der Stadt [Jerusalem] näherte und sie vor sich liegen sah, weinte er über sie: »Wenn doch auch du heute erkannt hättest, was dir Frieden bringt!« (Lk 19,41) Über welche Städte würde Jesus heute weinen? Auch als Jesus vor seinem toten Freund Lazarus steht, heißt es von ihm: Da brach Jesus in Tränen aus. Die Leute sagten: »Seht doch, wie sehr er ihn geliebt hat!« (Joh 11,35f) Beide Male ist das Weinen Jesu ein leidvolles Weinen. Es ist darin zu spüren, dass sich das deutsche Wort Weinen vom germanischen Wort Waih oder Weh her ableitet.

In solchem Weinen ist es gut, eine Vorausschau auf eine neue Welt zu haben: Und ich sah die heilige Stadt: das neue Jerusalem. […] Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen: »Sieh her: Gottes Wohnung ist bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein. Er wird jede Träne abwischen von ihren Augen. Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben, kein Klagegeschrei und keinen Schmerz. Denn was früher war, ist vergangen.« (Offb 21,2-4)

(Die Bibelzitate sind der Basisbibel entnommen.)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juli 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ – das hat der frühere Bundesminister Norbert Blüm einmal gesagt. Und er hat dabei verschmitzt gelächelt. Er wollte den um sich greifenden Egoismus ironisch auf die Schippe nehmen. Dazu gibt es gewiss reichlich Anlass, aber ich will hier nicht jammern oder klagen. Statt dessen will ich fragen: Ist es denn so ganz verkehrt, an sich selbst zu denken? Knapp 900 Jahre vor Norbert Blüm hat Bernhard von Clairvaux, der Gründerabt des Zisterzienserklosters Clairvaux, an Papst Eugen III., ein früherer Mitbruder Bernhards, folgende Zeilen geschrieben:

Wo soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen, denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir. Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. Du fragst: »An welchen Punkt?« An den Punkt, wo das Herz hart wird. Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig Du selbst nichts von Dir haben? Wie lange noch schenkst Du allen anderen Deine Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selbst? Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: »Tu das immer.« Ich sage nicht: »Tu das oft.« Aber ich sage: »Tu das immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.«

Man muss nicht Papst sein, um diese Sätze heute ganz persönlich für sich selbst zu hören. Gefangen im Hamsterrad zahlreicher Beschäftigungen, gefährlich nahe an einer verhärteten Stirn, an einem harten Herzen – das kann zeitweise auch unsere Situation sein. Sogar die Situation von Rentnerinnen und Rentnern.

Halt inne, zieh Dich mal raus aus allem, gönne Dich Dir selbst! Bernhard, der sehr in den biblischen Texten zuhause war, hat vermutlich das Jesuswort aus Markus 6,31 gekannt. Nach einer anstrengenden Zeit rät Jesus seinen Jüngern: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Das ist ein Satz, der fast wie ein Urlaubs-Tipp klingt und deshalb ganz gut in die Zeit bald beginnender Ferien und Urlaubsreisen passt. Ferien und Urlaub – jemand hat diese Zeit einmal den großen Sonntag im Jahreslauf genannt und damit als eine besondere Zeit bezeichnet, – eine Zeit, die, wie der wöchentliche Sonntag, kein Dauerzustand ist. Bernhard von Clairvaux schrieb ja auch: Ich sage nicht: »Tu das immer.« Ich sage nicht: »Tu das oft.« Aber ich sage: »Tu das immer wieder einmal.«

Und sollte es bei uns gar nicht um den „großen Sonntag“ der Ferien und des Urlaubs gehen, dann kann jeder Sonntag, Woche um Woche, eine Auszeit vom sonst Üblichen sein, jeder Gottesdienst und jede Andacht, und auch jede persönliche kleine Zeit der Stille und des Gebets zuhause im alltäglichen Tagesablauf.

Wenn jeder so an sich denkt, dann sind die anderen ganz bestimmt nicht vergessen und es ist tatsächlich an alle gedacht.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Die Monate Mai und Juni sind Monate des Säens und eine Zeit der Gartenfreude.

Wie lieblich ist der Maien aus lauter Gottesgüt,
des sich die Menschen freuen, weil alles grünt und blüht…

So beginnt ein Lied in unserem Gesangbuch (EG 501). Es könnte auch den Juni besin-gen.

Herr, dir sei Lob und Ehre für solche Gaben dein!
Die Blüt zur Frucht vermehre, lass sie ersprießlich sein.
Es steht in deinen Händen, dein Macht und Güt ist groß;
drum wollst du von uns wenden Mehltau, Frost, Reif und Schloß.

Da staunt ein Mensch über das Wunder der Schöpfung und darüber, wie nach der Winterstarre neues Leben wächst. Aus dem Staunen kann der Glaube entstehen und so lobt dieser Mensch Gott für die Schöpfergaben. Allerdings weiß er auch um die Gefahr durch Mehltau, Frost und Hagel. Gerade erst auskeimende Samenkörner, der noch zarte Salat und die kleinen Tomatenpflänzchen sind nicht sehr widerstandsfähig. Immerhin war es dieses Jahr und ist es scheinbar immer öfter nicht nötig, die Tage der sog. Eisheiligen vorbeigehen zu lassen.

Im Heiligen Land gibt es solche späten Fröste nicht. Gleichwohl aber gibt es das Staunen darüber, was aus einem Samenkorn werden kann. Jesus erzählt von einem Senfkorn: Wenn es in die Erde gesät wird, ist es das kleinste aller Samenkörner, die ausgesät wer-den. Aber wenn es ausgesät ist, geht es auf und wird größer als alle Sträucher. Es bringt so große Zweige hervor, dass die Vögel in seinem Schatten ihr Nest bauen können. (Mk 4,31f) Vermutlich handelt es sich um den Schwarzen Senf (Brassica nigra). Die Samen haben ca. 1 mm Durchmesser und die Sträucher können bis zu etwa 3 m hoch werden. De facto freilich nisten Vögel eher nicht in Senfstauden, da diese kurzlebige Pflanzen sind. Aber Jesus ist eben kein Biologie-Lehrer, ihm geht es um etwas ganz anderes. Er beginnt seine kurze Erzählung mit einer Frage: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen? Mit welchem Gleichnis können wir es beschreiben? Es ist wie bei einem Senfkorn … (Mk 4,30) Jesus ist also ein Reich-Gottes-Lehrer. Er erfindet gerne Gleichnisse und erzählt darin, wie es zugeht, wenn Menschen mit Gott leben.

Das Gleichnis vom Senfkorn ist ein Kontrast-Gleichnis für das Reich Gottes. Die eine Seite zeigt: Das Reich Gottes ist, wie das Senfkorn, klein und unscheinbar, es kann leicht übersehen werden. Das sollen wir als Christinnen und Christen wissen, dass unser Glaube, auch da, wo er tätig wird und also das Reich Gottes sichtbar macht, keine spektakuläre Größe zu sein braucht. Im Gegenteil, das Gleichnis verteidigt das Recht kleiner und kleinster Anfänge gegen fordernde Fragen nach großen Lösungen. Alles muss klein beginnen, alles darf klein beginnen, alltäglich. Das kann uns befreien und zu noch so kleinen Schritten motivieren. Die andere Seite zeigt die groß gewachsene Stau-de, größer als alle Sträucher sonst. Mehr geht nicht. Der Schatten in der Mittagshitze, diese zarteste Berührung, die es gibt, und der Lebensraum mit dem Nest, ein Ort der geschützten Geborgenheit, ein Zuhause – das klingt fast wie Himmel auf Erden. So ist das Reich Gottes – einerseits klein und unscheinbar, andererseits groß und umfassend. Bei-des beschreibt sein Geheimnis.

Wir sind wohl irgendwie dazwischen, zwischen jetzt schon – im Kleinen – und noch nicht – in Erwartung der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott. Bis dahin lassen Sie uns beten: Dein Reich komme – es scheine schon in unser Jetzt und es sei unsere Zukunft. Amen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Mai 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Gibt es etwas, wofür Sie alles hergeben würden? Als ich das meine Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht gefragt habe, kamen spontan ganz unterschiedliche Antworten zusammen. „Ich würde alles dafür geben, wenn mein Hamster wieder lebendig sein könnte.“ – Ich würde alles dafür geben, wenn mein Papa zu uns zurückkäme.“ – „Ich würde alles dafür hergeben, wenn meine Oma wieder gesund werden würde.“ Ernste Antworten, ernste Situationen. Natürlich gab es auch Antworten wie „Ich würde alles dafür geben, wenn der VfB Stuttgart deutscher Meister werden könnte.“ Es sagt sich so leicht, „ich würde alles hergeben, wenn…“. Würde ich das? Könnte ich das?

In einem Gleichnis erzählt Jesus von einem Menschen, der nicht nur darüber sinnierte, sondern tatsächlich so handelte. Es geht dabei um einen „Schatz, der im Acker vergraben ist: Ein Mann entdeckte ihn und vergrub ihn wieder. Voller Freude ging er los und verkaufte alles, was er hatte. Dann kaufte er diesen Acker.“ (Mt 13,44; Basisbibel)

Er verkaufte alles, was er hatte, buchstäblich alles. Ins Heute gesetzt, klingt das nach Geschäftsaufgabe mit Räumungsverkauf, nach Haushaltsauflösung und Hausversteigerung. Bücher, Geschirr, Möbel, Fahrrad, alles muss weg. Hätte dieser Mensch seinen Bankberater gefragt, hätte der ganz bestimmt zu anderem geraten: Seien Sie vernünftig, legen Sie Ihr Geld breit gestreut an. Man setzt doch nicht alles auf eine Karte! Und vermutlich beschleicht Sie, wie mich auch, ein Gefühl von Unverständnis: Geht’s noch?! Zumal es auch noch heißt „voller Freude ging er los und verkaufte alles“. Das ist doch wohl ein Witz! Aber, wie so oft bei Gleichnissen, hat es Jesus genau auf diese Reaktion abgesehen. Und damit genau auf diese Stelle: Voller Freude alles auf eine Karte setzen! Das gibt es doch nur in Liebesgeschichten.

Erzählt Jesus also eine Liebesgeschichte? Ja, das tut er, allerdings hat diese Liebesgeschichte eine ganz besondere Pointe. Am Anfang des Gleichnisses sagt Jesus: „Das Himmelreich gleicht einem Schatz, der im Acker vergraben ist.“ Jesus geht es natürlich nicht um Vermögensberatung, es geht ihm um das Reich Gottes. Bei Jesus ist das „der Inbegriff für ein gelungenes Leben, für wahrhaft humane Verhältnisse, für Glück, für Freude, versöhnte Zustände, für eine Menschheit, die fähig wäre, Gott zu einer nicht mehr endenden Partnerschaft in sich aufzunehmen, so dass der Unterschied zwischen Himmel und Erde aufgehoben wäre.“ (Herbert Vorgrimler)

Darin liegt die Pointe im Gleichnis Jesu: Für das Reich Gottes alles geben.

„Alles Jesus z’liab“, so hat Sr. Ulrika Nisch, eine einfache Nonne im Kloster Hegne am Bodensee, ihr alltägliches Tun und Lassen beschrieben und damit deutlich gemacht, dass es nicht um spektakuläre Aktionen oder besondere religiöse Leistungen geht. „Alles Jesus zuliebe“, alles, jedes noch so kleine Tun des Guten und jedes Unterlassen des Bösen – das ist keine moralische Forderung, sondern eine Gestalt des Glaubens. „Alles Jesus zuliebe“ – so kann die Beziehung zu Gott von uns einfachen Menschen in kleinen Schritten, Tag für Tag, gelebt werden, als eine Liebesbeziehung. So wird das Reich Gottes sichtbar. Im Zwischenmenschlichen, in unseren Aufgaben, im Innehalten.

In diesem Sinne fasse ich das Gleichnis zusammen: Das Himmelreich ist ein Schatz. Wer ihn entdeckt, findet sich in einer Liebesbeziehung wieder und lebt fortan Jesus zu-liebe – er versucht es zumindest. Voller Freude.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - April 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Haben Sie schon einmal Ruderer beobachtet? Die sehen doch immer ein bisschen so aus, als würden sie rückwärts fahren. Dabei fahren sie natürlich vorwärts, aber eben, indem sie nach rückwärts schauen. Dahin, von wo sie herkommen. Wer im Ruderboot seine Hände an die Riemen legt und sieht zurück, der macht alles richtig. Das steht so nicht in der Bibel, aber es gibt ein Osterlied, das dazu passt. Es ist das Lied Christ lag in Todesbanden (EG 101). Schauen wir in den Text des Liedes „Christ lag in Todesbanden“. Die erste Strophe lautet:

Christ lag in Todesbanden, für unsre Sünd gegeben,
der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben.
Des wir sollen fröhlich sein, Gott loben und dankbar sein und singen Halleluja.

Das Lied beginnt mit der gleichen Blickrichtung wie beim Rudern. Es beginnt mit dem Blick zurück: Christ lag in Todesbanden, für unsre Sünd gegeben. Wir hören doch so oft, dass man nach vorne schauen soll. Ja, aber diese ersten Zeilen lassen uns zurück schauen ins Dunkel des Karfreitags. Und zugleich ins Dunkel menschlicher Schuld, die von Gott trennt. In diesen Wochen bekommen wir durch den Krieg in der Ukraine erneut eine schreckliche Ahnung davon, wie menschliche Bosheit und Schuld in Zerstörung und Vernichtung und also in den Tod führen. Aber schauen wir nicht nur von uns weg auf andere. Auch wir selbst sind gemeint, jede und jeder von uns. Jesu Tod – wegen uns? Uns zugut, für uns, so sagt es das Lied. Geheimnis des Glaubens. Jesu Tod steht fest. Das ist der Ausgangspunkt. Dahin schauen wir zurück.

Aber der Tod Jesu ist nicht das letzte Wort seiner Geschichte. Es kommt Bewegung hinein: der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben. Geheimnis des Glaubens. Jesu Tod steht fest, Jesu Auferstehung auch, aber sie bewegt – heraus aus dem Tod, hinein ins Leben. Gottes Leben ist also ein bewegtes Leben. „Ein bewegtes Leben mit Sündern – das hat Gott hinter sich, damit ein noch bewegteres Leben mit befreiten, mit mündigen Menschen beginnt.“ (Eberhard Jüngel) So ist folglich unser Leben als Christinnen und Christen zusammen mit Gott ein bewegtes Leben. Mit dem Blick zurück auf das, was fest steht, bewegen wir uns vorwärts. Jesu Tod steht fest, Jesu Auferstehung bewegt. Es ist tatsächlich so ähnlich wie beim Rudern. Christliches Leben als ein Rudern – warum eigentlich nicht?!

Das Rudern ist für mich auch ein schönes Bild für die Zusammenarbeit in einer Kirchengemeinde: wir sitzen alle im selben Boot und bewegen uns mit dem Rücken voraus in die Zukunft. Wir haben im Blick, was Gott schon für uns getan hat. Wir wissen nicht, was alles auf uns wartet. Wir kommen nur voran, wenn wir miteinander reden und uns aufeinander abstimmen, wie und mit welcher Geschwindigkeit wir gemeinsam unterwegs sein wollen und was wir erreichen möchten. Achtsamkeit, Geduld und viel Verständnis für die Möglichkeiten der anderen sind gefragt. Und es bedarf eines Steuermanns. Im Kirchenboot ist Gott der Steuermann. Er hat den Überblick, nicht wir. In ihn dürfen wir unser ganzes Vertrauen setzen. Er bringt uns an sein Ziel.

Die letzten Zeilen der ersten Strophe lauten dazu ganz passend: Des wir sollen fröhlich sein, Gott loben und dankbar sein und singen Halleluja.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“- Karwoche 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Das wahre Gesicht zeigen“ – diese Überschrift habe ich vor kurzem über einem Artikel gelesen, in dem es um den weitgehenden Wegfall der Corona-Maskenpflicht ging. Da dieser Wegfall kein Maskenverbot ist, werde ich diesen Schutz in vielen Situationen weiterhin tragen. Natürlich schätze ich es, Menschen wieder ins Gesicht schauen zu können und nicht nur ihre Augen zu sehen. Ohne Maske kann ich endlich freier atmen. Ich kann jemandem freundlich zulächeln, kann besser wahrnehmen, wie mein Gegenüber drauf ist. Schon von weitem kann ich Bekannte viel leichter erkennen. Aber zeigen wir einander tatsächlich unser wahres Gesicht? Auch ohne FFP2-Masken tragen wir oft genug unsichtbare Masken, mit denen wir unser Inneres vor dem Blick und der Deutung anderer verbergen. Einerseits hat das eine berechtigte Schutzfunktion, andererseits kann es eine Form der Täuschung und Lüge sein. Was also ist unser wahres Gesicht?

Spätestens seit einigen Wochen kennen wir das wahre Gesicht eines Autokraten, von dem viele meinten, bei ihm und in seinem Land einen Wandel durch Handel bewirken zu können. Nun sehen wir ins Gesicht eines skrupellosen Kriegsherrn. In diesem Fall ist es furchtbar, das wahre Gesicht eines anderen gezeigt zu bekommen. Darauf hätte ich gern verzichtet. Ganz und gar nicht verzichten möchte ich auf das wahre Gesicht von Menschen, die mir ungeschminkt sagen, was ihnen an mir auffällt, die mich ehrlich aufmuntern und mir ungespielt zur Seite stehen.

Vor knapp 2000 Jahren hat in Jerusalem ein Mensch namens Jesus sein wahres Gesicht gezeigt. Das hat er zwar sein ganzes Leben hindurch getan; in den Ereignissen der Passionszeit wird es aber in besonderer Weise deutlich. Die Jünger nehmen mit ihrem Herrn und Lehrer zur Zeit des Passahfestes ihr letztes gemeinsames Mahl ein. Da geschieht etwas völlig Unerwartetes:

Jesus stand vom Tisch auf, legte den Mantel ab und band sich ein Tuch um. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen. Danach trocknete er sie mit dem Tuch ab, das er umgebunden hatte. (Johannes 13,4f; Basisbibel)

Diesen Dienst verrichten normalerweise die Diener des Hauses. Doch hier beugt sich Jesus als Herr und Lehrer zu jedem Einzelnen hinunter. Zu seinem Hinabbeugen gehört Größe, gehört Mut, gehört Demut. Wahre Demut kennt die eigene Stärke und die eigenen Schwächen, den angemessenen Platz unter Gott. Sie hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun. Das wäre falsche Demut. Demütige Menschen machen sich nicht künstlich klein und sie entwerten sich nicht selbst durch Buckeln und Selbstverachtung. Jesus sagt: Versteht ihr, was ich für euch getan habe? Ihr nennt mich Lehrer und Herr. Und ihr habt recht, denn das bin ich. Ich habe euch die Füße gewaschen – ich, der Herr und Lehrer. Also sollt auch ihr einander die Füße waschen. Denn ich habe euch ein Beispiel gegeben. Ihr sollt das tun, was ich für euch getan habe. (Johannes 13,12b-15; Basisbibel)

Wohl eher nicht im buchstäblichen Füßewaschen besteht das Beispiel, sondern in der Demut, im Diene-Mut, im Mut zum Dienen. Jesus in allem nachahmen zu wollen, wäre eine Überforderung. Aber in seinem Sinne zu handeln, wahre Demut zu leben, das macht einen Menschen schön und macht ihn Christus ähnlich. Zu dieser Ähnlichkeit gehört auch, unseren Teil am Kreuz Jesu zu tragen – noch erinnert uns die Passionszeit daran –, und es gehört auch dazu, der Zusage zu vertrauen, dass wir mit ihm, mit Christus, leben werden. (Römer 6,8)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - August 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Der alte Pfarrer kommt nach einem arbeitsreichen Leben im Dienst der Kirche an die Himmelstür. Doch als Petrus öffnet, kann der mit dem frommen Mann nichts anfangen. Er findet ihn nicht auf der Liste der Neuankommenden. Der Pfarrer kann das kaum glauben. Er bittet inständig, sogar in perfektem Hebräisch, Griechisch und Latein, doch Petrus bleibt stur. Dann sag mir wenigstens, fleht der Geistliche, wie sieht Gott aus? Petrus zögert einen Moment, dann flüstert er: She is black!

Das ist natürlich nur ein Witz. Aber einer, der es in sich hat: Gott weiblich und dunkelhäutig, im Himmel wird Englisch gesprochen, und nicht einmal ein Pfarrer kann sicher sein, hinein zu kommen. Nur ein Witz, aber die Pointe ist klar: Gott ist anders, als wir denken.

Der tschechische Religionssoziologe Tomáš Halík hat untersucht, was Menschen in Europa derzeit über Gott denken. Dabei hat er eine Art ’neue Konfession’ ausgemacht: Er nennt sie Etwasisten. So nennt er Menschen, die glauben, dass da etwas ist, irgendein höheres Wesen. Mir sagen manchmal auch Menschen, meist solche, die mit der Kirche in einer Fernbeziehung stehen oder in gar keiner Beziehung mehr: „mir glaubet au ebbes“ – wir glauben auch etwas. Dieses Etwas genauer beschreiben wollen sie gar nicht. Immerhin, etwas ist nicht nichts. Aber es ist halt maximal unkonkret. Die große Bandbreite des Wörtchens ’etwas’ zeigt schon der Alltagsgebrauch: Gestern ist mir etwas Dummes passiert – heute gibt’s ebbes Guats zum Essen. Beides lässt beliebige Spekulationen zu. Richtige und falsche.

Bei ernsterem Gebrauch und gar im Hinblick auf Gott ist das nicht anders. Mir kommt der provokative Satz Karl Rahners in den Sinn: Gott sei Dank gibt es nicht, was 60 bis 80 Prozent der Zeitgenossen sich unter Gott vorstellen.

Als Christinnen und Christen sind wir an die Bibel verwiesen, wenn wir uns eine Vorstellung von Gott machen wollen. Allein im Buch der Psalmen gibt es eine Fülle von Bildern. Schauen wir einmal: Psalm 18,3 Gott ist wie eine Burg, die schützt – Psalm 23,1 Gott ist wie ein Hirte, der behütet – Psalm 27,1 Gott ist wie ein Licht, das erhellt – Psalm 31,3 Gott ist wie ein Fels, auf dem man fest stehen kann – Psalm 50,6 Gott ist wie ein Richter, der für Gerechtigkeit sorgt – Psalm 84,12 Gott ist wie die Sonne, die wärmt – Psalm 103,13 Gott ist wie ein Vater usw. Arzt, Quelle, Freund sind weitere Bilder aus anderen biblischen Büchern.  Und er tröstet, wie eine Mutter tröstet (Jes 66,13). Diese biblischen Bilder gehen über ein Etwas deutlich hinaus. Das Bildnis-Verbot warnt freilich davor, Gott in einem dieser Bilder einzuschließen und ihn dadurch zu verfehlen. Selbst die Gesamtheit dieser Bilder beschreibt Gott nicht hinreichend. Die Bilder sind aber gute, denkmögliche Hinweise auf das Wesen Gottes. Man könnte sagen, dass dem Bildnis-Verbot ein Bilder-Gebot folgt. Die vielen Bilder sind nicht falsch, wenn wir zugleich mitbedenken: Gott ist anders, als wir denken.

Über eines lässt uns die Bibel nicht im Unklaren: Dieser Gott, so unbegreiflich und geheimnisvoll er bleiben mag, ist nur Liebe. In Liebe kommt er uns entgegen und möchte mit uns sein. Er lässt sich von uns ansprechen, auch von denen, die ihn zögernd ’Etwas’ nennen.

Warum ich für diesen so unbegreiflichen Gott zu werben wage? Weil es zu allen genannten Bildern noch ein weiteres Gottesbild gibt, das mir in besonderem Maß Vertrauen einflößt und das mir zeigt, dass ich auf der richtigen Spur bin, wenn ich ihm folge. Dieses Gottesbild ist Jesus Christus, der von sich sagt: Wer mich sieht, sieht den Vater. Wer etwas von Gottes Geheimnis erfassen will, kommt um Jesus Christus nicht herum.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - März 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Trotz vielfältiger Hilfe für die Ukraine und trotz verschiedener Maßnahmen zum Stoppen der Aggression empfinden wir auch nach 30 Kriegstagen eine gewisse Ohnmacht. Und wir fragen uns, was uns zu denken und zu tun übrig bleibt. Ja, was bleibt? Die so gestellte Frage provoziert diese Antwort: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1 Kor 13,13) Angesichts der kaum auszuhaltenden Berichte und Bilder aus dem Kriegsgebiet ist es freilich ein Glauben, ein Hoffen und ein Lieben in einem extremen Ernstfall. Dietrich Bonhoeffer schrieb zum Jahreswechsel 1942 „über das Walten Gottes in der Geschichte“ folgende Sätze: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. […] Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ Glauben im Ernstfall.

Hoffen im Ernstfall. Hoffnung ist ein zartes Pflänzchen, das leicht zertreten wird. Hoffnung ist aber auch eine starke Kraft. Sie kann die Gründe für das Gelingen stärker gewichten als die Gründe für das Scheitern. Hoffen wir also, dass es bald gelingt, dem Aggressor mit Klugheit und Klarheit Einhalt zu gebieten. Hoffen wir, dass es gelingt, den Menschen in der Ukraine und den Geflüchteten angemessen zu helfen. Hoffen wir auf Frieden.

Lieben im Ernstfall. Der Schreiber des Korintherbriefs gibt der Liebe das größte Gewicht. Doch scheint gerade sie es schwer zu haben in einer Kriegs-Situation, in der Gewalt und Lüge zu triumphieren scheinen. Aus Liebe zur Wahrheit ist es wichtig, dass wir uns, so gut es geht, informieren. In einer Situation, in der es Versuche gibt, mit Desinformationen zu täuschen, ist das schwer genug. – Es ist die Liebe zu den Opfern, die in diakonischem Handeln tätige Liebe, die jetzt gebraucht wird. Manche von Ihnen kennen Menschen, deren Lebensgeschichten mit der Ukraine oder auch mit Russland verbunden sind – vielleicht sind Sie selbst ein solcher Mensch. Dann gehört es zum Handeln aus Liebe, gerade jetzt mit einander zu sprechen, einander zuzuhören, einander beizustehen und auf diese Weise einander zu zeigen, dass wir zusammengehören. – Am schwersten dürfte die Liebe zum Aggressor, zum Feind fallen, zu der uns Jesus in der Bergpredigt auffordert. Jörg Zink schrieb zu Weihnachten 2014: „Den Feind lieben heißt gewiss nicht sich anbiedern oder unterwerfen, es heißt gewiss nicht Grausamkeit hinnehmen, ohne sich zu wehren und den Verfolgten zur Seite zu stehen. Aber es heißt sehen, dass auch unsere Feinde Menschen sind wie wir: fehlerhaft, verängstigt, irrend, gebunden an Interessen und Vorurteile. […] Den Feind lieben – das heißt hinausdenken über die Feindschaft: davon ausgehen, dass Menschen sich ändern können, Feindschaften beigelegt und Konflikte versöhnlich beendet werden können.“ In einer Situation brutaler Aggression muss die Liebe zum Feind allerdings auch beinhalten, ihm um der Opfer und um seiner selbst willen in den Arm zu fallen und zu versuchen, ihn von seinem menschenverachtenden Tun abzubringen.

Ein Vorschlag zum Schluss. Nehmen wir doch unser menschenmögliches Glauben, Hoffen und Lieben mit hinein ins Beten. Auch im Schatten der Ohnmacht sollte niemand das Beten unterschätzen.

Reinhold Schneider traut dem Gebet viel zu. Er hat folgendes Gedicht im Jahr 1936, also in einer ebenfalls bedrohlichen Weltlage, geschrieben.

Allein den Betern kann es noch gelingen

Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten

Und diese Welt den richtenden Gewalten

Durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:

Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,

Was sie erneuern, über Nacht veralten,

Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt,

Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,

Indes im Dom die Beter sich verhüllen,

Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt

Und in den Tiefen, die kein Aug’ entschleiert,

Die trockenen Brunnen sich mit Leben füllen.

Beten wir, miteinander und füreinander, in den Gottesdiensten und zuhause, frei oder nach Vorlage – unser Gesangbuch ist voller Gebete.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Februar 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Man kann Gott nicht allein mit Arbeit, sondern auch mit Feiern und Ruhen dienen“. Dies soll Martin Luther einmal zu seinem wichtigsten Mitarbeiter und Freund Philipp Melan-chthon gesagt haben. In der Reutlinger Marienkirche stehen sich beide gegenüber – vom Kirchen-schiff aus gesehen auf der linken Seite Martin Luther, rechts Philipp Melanchthon.

Philipp Melanchthon – sein Nachname ist der ins Griechische übersetzte Geburtsname Schwarzerdt – kam am 16. Februar 1497 in Bretten zur Welt. In diesem Jahr 2022 hat er also seinen 525. Geburtstag. Deshalb möchte ich ein wenig von ihm erzählen. Er besuchte früh eine Lateinschule und galt schnell als Wunderkind. Im Alter von 12 Jahren ging er an die Universität nach Heidelberg und beendete sein Studium fünf Jahre später in Tübingen mit dem Magistergrad. Mit 21 Jahren begann er als Hochschullehrer an der Universität in Wittenberg. Philipp Melanchthon war wohl das, was man hierzulande „a Käpsele“ und einen „Schaffer“ nennt. Es gibt eine Menge Zuschreibungen für ihn. Universalgelehrter zum Beispiel. Er arbeitete u.a. in den Bereichen Philosophie, Alte Sprachen, Geschichte, Pädagogik, Physik, Astronomie, Mathematik, Medizin und Theologie.

Der christliche Glaube im Denken und Handeln und die Bildung durch die Beschäftigung mit den Wissenschaften waren Melanchthon besonders wichtig. „Was anderes verschafft dem gesamten Menschengeschlecht größere Vorteile als die Wissenschaften?“, meinte er. Und weiter: „Es ist der Wille Gottes, dass die Wissenschaften Richtschnur für das Leben sind. Freilich sollen sie auch ihn selbst auf irgendeine Art und Weise offenbaren. Gewiss und sicher sollen sie sein. […] Denn wenn sie vollends ungewiss wären und nichts Sicheres beinhalteten, könnten sie weder Gott offenbaren noch Gesetzmäßigkeiten für unser Leben liefern.“ (Initia doctrinae physicae, verfasst 1549) Das würde ich gerne allen Anhängern sog. alternativer Fakten entgegenhalten.

Philipp Melanchthon war ein wichtiger Reformer im Universitäts- und Schulwesen. Schon zu seinen Lebzeiten schrieb man ihm den Titel Praeceptor Germaniae (Lehrer Deutschlands) zu. Als Lehrer scheint er mir auch in der Marienkirche dargestellt zu sein. Nicht wie Lehrer Lämpel mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit einem ausgestreckten, auf etwas zeigenden Finger einer offenen Hand. Eine schöne Geste. Lehrer sind Zeiger, wenn man sie lässt und sie nicht zu Lern-Coaches degradiert. „Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt“, schrieb Melanchthon. Allerdings sah er das Lehren wohl recht realistisch, wenn er schreibt: „Welcher Esel in irgendeiner Stampfmühle hat aber jemals soviel Übel ertragen, wie der durchschnittliche Lehrer im Unterricht bald an Mühe durchmacht, bald an Ärger erduldet.“ (De miseriis paedagogorum, 1533)

Sehr zurecht steht Philipp Melanchthon in der Marienkirche als Reformator und „Chefdiplomat der Protestanten“ (Günter Frank) neben Martin Luther. In seinem Buch Loci Communes (1521), einer Art ’Wikipedia des Glaubens’, hat er die wichtigsten Haupt-punkte der christlichen Lehre dargestellt und mit der Confessio Augustana (1530) die wichtigste Bekenntnisschrift der Reformation verfasst.

Philipp Melanchthon ist neben Martin Luther in der Schlosskirche in Wittenberg begra-ben.

 

Alle Zitate von Philipp Melanchthon sind kursiv gesetzt. Sie wurden Zitatensammlungen entnommen und werden ohne genaue Quellenangabe wiedergegeben.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Februar 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Ja, ist denn immer noch Weihnachten?! Ja, weitgehend unbemerkt ist immer noch Weihnachten. Der Weihnachtsschmuck ist allerdings aus den meisten Häusern und auch aus den Kirchen verschwunden. Aus den Fußgängerzonen sowieso. Lange wird es nicht mehr dauern, dann sind in den Auslagen der Geschäfte Ostereier und Osterhasen am Start.

Aber: 40 Tage nach Heiligabend, am 2. Februar gibt es noch einmal ein leises Weihnachtsfest. In früheren Zeiten wurde an diesem Tag in der Kirche das Fest der Darstellung des Herrn und damit das Ende des Weihnachtsfestes gefeiert. Was steckt dahinter? 40 Tage nach der Geburt bringen Maria und Josef nach einer Vorschrift der Thora ihren Sohn Jesus nach Jerusalem in den Tempel. Dort begegnen sie Simeon und Hanna. Von Hanna wird gesagt, sie sei eine Prophetin. Bei dieser Bezeichnung denken viele an Menschen mit der besonderen Gabe, Ereignisse und Situationen vorherzusehen. Mir scheint aber, dass Hanna in dieser Begegnung mit Jesus eher eine Hervor-Seherin als eine Vorher-Seherin ist. Sie erkennt, dass mit diesem sonst gewiss nicht besonders auffälligen Säugling ein Übergang stattfindet, dass da etwas ganz Neues beginnt. Jesus ist für sie sozusagen der Game Changer. Im Spiel der Liebe Gottes zu den Menschen beginnt etwas ganz Neues. Zunächst einmal für Hanna hat nämlich das Warten auf den Messias ein Ende. Der Evangelist Lukas berichtet, sie habe beim Anblick Jesu Gott gelobt und dann allen von dem Kind erzählt, allen, die auf den Retter warteten. (Lk 2,38, Basisbibel)

Ganz ähnlich ist es mit Simeon. Auch ihn möchte ich als einen Hervor-Seher bezeichnen. Er sieht, was anderen verborgen bleibt. Er sieht, dass mit Jesus der ersehnte Retter, das Heil der Welt, gegenwärtig ist. Diese Sicht verdankt er nicht dem Bild auf seiner Netzhaut, sondern dem Heiligen Geist als Öffner der inneren Augen. Lukas lässt daran keine Zweifel aufkommen, wenn er schreibt: Durch den Heiligen Geist hatte Gott ihn [Simeon] wissen lassen: »Du wirst nicht sterben, bevor du den Christus des Herrn gesehen hast.« (Lk 2,26f, Basisbibel) Der Heilige Geist ist für Simeon nicht nur ein Augenöffner, er ist auch ein Mundöffner. Und so stimmt Simeon einen Lobgesang im Tempel an: »Herr, jetzt kann dein Diener in Frieden sterben, wie du es versprochen hast. Denn mit eigenen Augen habe ich gesehen: Von dir kommt die Rettung. Alle Welt soll sie sehen – ein Licht, das für die Völker leuchtet und deine Herrlichkeit aufscheinen lässt über deinem Volk Israel.« (Lk 2,29-32, Basisbibel)

Maria und Josef haben sich ganz bestimmt gewundert und vermutlich nicht schlecht gestaunt über das, was sie da im Tempel gehört und erlebt haben. Staunen gehört zum Umfeld des Glaubens. Lassen wir uns Maria und Josef in ihrem Staunen doch zu Vorbildern werden. Dieser Lichtmess-Tag 2. Februar, dieses stille Weihnachtsfest, kann ein Anlass sein, noch einmal eine Kerze anzuzünden, einen Stern daneben zu legen und zu staunen. Staunen wir ruhig noch einmal über die Botschaft von dem großen Licht, das mit Jesus in die Welt gekommen ist. Staunen wir darüber, dass Gott dieses Licht ausgerechnet in einem Kind, also in einem Menschen des Anfangs und der Bedürftigkeit, aufscheinen lässt. Staunen wir, wie nahe uns Gott in seinem Menschsein kommen will. Und mit diesem Stauen lassen Sie uns in die nächste Etappe im Kirchenjahr hineingehen, in die bald beginnende Passionszeit.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Januar 2022

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


In letzter Zeit fällt mir auf, dass mir durch die Scheibe des Fernsehers hindurch immer mal wieder ein aus beiden Händen geformtes Herz entgegengehalten wird.

Ich beobachte es z.B. bei Sportlern, sofern sie beide Hände frei haben. Kurz denke ich: Meint der mich? Das kann ja nicht sein, weil er mich weder kennt noch sieht. Also ist es vermutlich „nur“ ein Liebesgruß an die Seinen, von denen er sicher weiß, dass sie unter den Zuschauern sind. Liebe und Herz, das gehört ja irgendwie zusammen.

Herz meint dabei natürlich nicht zuerst das Zentral-Organ des Gefäßsystems, das Blut durch unseren Körper pumpt. Neben diesem biologischen Herzen hat jede und jeder von uns noch ein anderes Herz, ein Person-Herz, das auf keinem Foto darstellbar ist. Da dieses Person-Herz denken und entscheiden kann, ist es der Sitz von Verstand und Vernunft. Da geht es darum, was ich tun kann und was ich tun soll. Herz und Kopf sind hier nahe aneinandergerückt, fast wie bei einem schön gewachsenen Salat: da ist das Herz im Kopf. Das Herz im Kopf haben – eine gute Idee, auch für uns!

Das Person-Herz ist zusätzlich auch der Ort für die Gefühle und für das Gemüt und steht im biblischen Sprachgebrauch für Liebe – ja, wie schon gesagt –, aber eben auch für Hass, es steht für Zuneigung und Ablehnung, für Verlangen und Widerstreben. Von diesem Person-Herzen können Steine herunterfallen, wir können es in beide Hände nehmen, es kann uns aber auch in die Hose rutschen. Es ist also eine recht wankelmütige Angelegenheit.

Ganz gewiss auch deshalb heißt es im Hebräerbrief, es sei „ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde…“. (Heb 13,9)

Ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde. Was heißt fest? Ich sage zuerst, was es nicht heißt. Ein festes Herz ist nicht hart oder versteinert, nicht unempfindlich und kalt. Ganz im Gegenteil. Schon unser biologisches Herz, der Herzmuskel, darf sich nicht verhärten, sondern muss weich und geschmeidig bleiben. Andernfalls kommt es zu Herzrhythmusstörungen. Ein festes Person-Herz muss ebenso weich sein, warm und empfänglich, um z.B. Empathie, Geduld und Freude am Leben zu ermöglichen. Ein festes Herz braucht einen beweglichen Kompass, um sich im Stimmengewirr und in der Angebotsvielfalt unserer Welt zurecht zu finden. Andernfalls kommt es zu falschen Einschätzungen, zu Trübungen des Selbstbildes und zu Beziehungsstörungen. Ein festes Herz ist ein köstlich Ding, weil es Leben und Zusammenleben unterstützt. Es ist also für ein gutes Leben ein erstrebenswertes Ziel, ein festes Herz zu haben. Anders als für den Herzmuskel braucht es dazu kein konsequentes Trainingsprogramm. Nein, der vorhin aus dem Hebräerbrief zitierte Vers sagt in seiner Fortsetzung, wie es geht: „Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ Nun ist Gnade ein heutzutage nicht ganz leicht verständlicher Begriff. Zur Gnade gehört, weder der alleinige Architekt noch der alleinige Anwalt des eigenen Lebens sein zu müssen. Was das Leben trägt, können wir selbst nicht erzeugen, nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht das Vertrauen, in Gottes guten Händen geborgen zu sein. Ein festes Herz gewinnen wir also nicht durch eigene Anstrengung, sondern indem wir anerkennen, dass wir bedürftig sind. „Ich bin, weil mir zu meinem Sein verholfen wird“. (F. Steffensky) Bedürftig sein ist keine Schande, es macht uns Menschen geschwisterlich, menschlich, herzlich.

„Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Dezember 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


In den Weihnachtserzählungen der Bibel kommt ein Satz gleich mehrmals vor: „Fürchtet Euch nicht!“ Engel sagen dies zu Zacharias, zu Maria, zu Josef und schließlich zu den Hirten auf den Feldern Bethlehems. Alle haben sie offenbar gute Gründe, sich zu fürchten. Den Furchtlosen bräuchte der Engel nicht zurufen: „Fürchte Dich nicht!“ Zacharias und seine Frau Hanna (Lk 1,1-19) fürchten sich davor, das Altsein alleine durchstehen zu müssen. Ohne Nachkommen, die sie im Alter pflegen und für ihr Auskommen sorgen. Beide sind hoch betagt und befürchten deshalb aus gutem Grund, dass ihr Beten um Kinder vergeblich bleiben wird. Doch sie erleben, dass Gott auf wundersame Weise ihre Gebete erhört und für sie sorgt. Maria (Lk 1,26-38) hat sich trotz der Furcht vor den unglaublichen Worten des Engels auf Gottes Weg eingelassen, ein Ja dazu gefunden. Und ebenso Josef (Mt 1,18-25), der sich nicht von seiner Furcht vor dem, was mit dieser ungewöhnlichen Schwangerschaft auf ihn zu kommt, bestimmen ließ. Die Hirten (Lk 2,8-14) haben ihre Furcht angesichts des für sie unerklärlichen Engelchors überwunden. Sie haben den Worten der Engel geglaubt, sich auf den Weg zum Stall gemacht und vermutlich die bewegendste Erfahrung ihres Lebens gemacht.

Unsere Befürchtungen mögen ganz andere sein als jene der genannten biblischen Personen. Nur 3 Beispiele: Die Furcht vor einer Corona-Infektion kann das Beisammensein mit Freunden und Verwandten an Weihnachten überschatten. Angesichts der im Umlauf befindlichen Verschwörungstheorien und der zunehmenden Gewalt bei Protesten gegen staatliche Maßnahmen haben viele die sehr berechtigte Furcht, dass das gesellschaftliche Klima rauer und kälter wird. Und aufgrund wissenschaftlicher Beschreibungen der Erderwärmung fürchten viele Menschen die häufiger auftretenden extremen Wettererscheinungen. „Fürchtet Euch nicht!“, sagt der Engel. Wenn ich mich davon ansprechen lasse, regen sich in mir die Fragen: Wie soll das gehen? Gibt es eine Strategie, sich nicht zu fürchten? Ich versuche zu antworten, indem ich dem F wie Furcht ein mehrfaches V entgegensetze. Zunächst V wie Vorsicht. Es gibt ja tatsächlich Strategien, einer Corona-Infektion, mindestens aber einem schweren Verlauf, vorzubeugen. Wir alle kennen die Vorsichtsmaßnahmen. Dann V wie Verantwortung. Für den eigenen Lebensstil wie für das globale Wirtschaften gibt es Strategien genug, die ein verantwortliches Handeln zur Bewahrung der Schöpfung ermöglichen. Wir müssen das konsequent mit V wie Verstand und Vernunft angehen.

Und – last but not least – V wie Vertrauen. Das „Fürchtet Euch nicht!“ des Engels verklingt nicht als Appell. Nein, jedes Mal wird ein Grund genannt, der zeigt, dass unsere furchtbesetzte Wirklichkeit gehalten ist von Gott. Er ist uns zugewandt. Er kommt uns nahe. Deshalb dürfen wir das auch für uns hören:

Fürchte dich nicht, Zacharias, dein Gebet ist erhört worden. – Fürchte dich nicht, Maria! Gott wendet sich Dir liebevoll zu. – Fürchtet euch nicht, ihr Hirten! Ich bringe euch eine gute Nachricht, die dem ganzen Volk große Freude bereiten wird. Denn heute ist in der Stadt Davids für euch der Retter geboren worden.

Damit ist gesagt: Wenn ihr auf das Kind in der Krippe, wenn ihr auf Jesus schaut, dann könnt ihr sehen: Gott ist bei euch – mitten in allen Widrigkeiten des Lebens, in aller Furcht und Gefahr. Und mit dem Kind in der Krippe schenkt Gott Hoffnung auf eine gute Zukunft. Vertrauen wir darauf!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, November 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Manche nennen den 9. November „Schicksalstag der Deutschen“. Erinnern möchte ich dazu an die sog. Reichspogromnacht am 9. November 1938 und an den Tag des Mauerfalls am 9. November 1989.

Lässt sich eine größere Spannung denken als die zwischen diesen beiden Tagen?!

Der 9. November 1938 mit der Zeit davor und danach steht für Friedlosigkeit und brutalste Gewalt gegen jüdische Gotteshäuser. „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande“, heißt es im 74. Psalm. In Dietrich Bonhoeffers Bibel sind diese Worte unterstrichen und am Rand ist vermerkt: „9.11.38“. Übergriffe gab es auch gegen privates jüdisches Eigentum, gegen Leib und Leben jüdischer Menschen. In Reutlingen wurde z.B. die jüdische Familie Rosenrauch aus dem Schlaf gerissen und gezwungen, alle Schuhe ihres Schuhgeschäfts in der Wilhelmstr. 31 auf die Straße zu werfen. „Die Schuhe blieben bis zum nächsten Morgen auf der Straße liegen – nach Augenzeugenberichten wurden sogar Posten aufgestellt, um zu verhindern, dass jemand der Familie Rosenrauch half. Erst als am frühen Morgen die Straßenbahn diese Stelle nicht passieren konnte, wurden die Schuhe in den Laden zurückgeworfen. Am nächsten Tag brachte man Heinrich Rosenrauch in das Konzentrationslager Dachau, wo nach der Pogromnacht mehr als 10.000 Juden eingeliefert wurden.“ (Quelle: Reutlingen 1930-1950, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. Katalog zur Ausstellung zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, Stadt Reutlingen 1995, S. 167f)

Der 9. November 1989

mit der Zeit davor zeigt andererseits, dass Friedfertigkeit die Ge-schichte neu gestalten und zum Guten verändern kann. Zu den Montagsdemonstrationen damals in der DDR hatten die Kirchen nicht explizit aufgerufen. „Aber eigentlich waren es viele Pastoren und Mitarbeiter an unterschiedlichen Orten, in Leipzig, Dresden, Plauen, Berlin, Erfurt, Jena, die vorher eingeübt hatten ein friedliches Umgehen mit Differenzen. Eigentlich wurden bestimmte Aggressivitätspotenziale, die in der DDR-Bevölkerung gerade im männlichen Teil durchaus vorhanden waren, vorbeugend abgebaut, gemildert. Das ist die große Leistung, dass das nicht in die Gewalt kippte. Das kann man durchaus Menschen, die in unterschiedlicher Weise christliche Prägung hatten, mit zuschreiben“, sagt der Schriftsteller und DDR-Bürgerrechtler Lutz Rathenow. (Quelle: www.deutschlandfunk.de/kirchen-in-der-friedlichen-revolution-es-ist-die-grosse.886.de.html, abgerufen am 04.11.2021)

Tatsächlich trafen sich viele der Demonstranten zunächst in den Kirchen zum Friedensgebet. Danach zogen z.B. in Leipzig am 9. Oktober 1989 70.000 mutige Menschen mit dem Motto „Keine Gewalt!“ und mit Kerzen in den Händen durch die Straßen, um für Reformen und Freiheitsrechte zu demonstrieren. Am 9. November 1989 ging die bis dahin nahezu unüberwindliche Grenze auf. Die Menschen tanzten auf der Mauer, die vorher beide Teile Deutschlands voneinander getrennt hatte. Wir bezeichnen heute die Vorgänge von damals als Friedliche Revolution.

„Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes heißen“ (Mt 5,9) – dieses Jesuswort aus der Bergpredigt lese ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Auch beim Lachen kann das Herz trauern. (Spr 14,13; Luther 2017) Am 9. November muss es sogar so sein.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Oktober 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Gut anderthalb Jahre tragen wir nun schon Masken und noch ist nicht absehbar, ob – und falls ja, wann – wir sie wieder loswerden. In vielen Situationen, so auch in der Kirche, ist das Tragen einer Maske als Mund-Nase-Schutz Pflicht. Wir wissen, dass wir uns damit gegenseitig schützen und akzeptieren es deshalb. Aber ganz ehrlich: Manchmal bin ich des Maskentragens so müde!

Wenn ich diesen Satz sage, dann denke ich freilich nicht nur an den Mund-Nase-Schutz. Auch wenn wir ohne diese Dinger sind, tragen wir oft genug Masken. Sozusagen unsichtbare Masken, die wir mit unserer Mimik und Gestik und mit unserer ganzen Körpersprache erzeugen. Mit diesen Masken schützen wir unser Inneres vor dem Blick und der Deutung anderer. Solche unsichtbaren Masken können uns vor einer Bloßstellung bewahren und ermöglichen eine gewisse Zurückhaltung und Distanz im Umgang mit anderen. Das alles ist gut so.

Schlecht ist dagegen, dass diese unsichtbaren Masken eine vertiefte menschliche Begegnung erschweren und ein falsches Bild von uns vorgeben können.

Im biblischen Buch der Sprüche heißt es dazu: Hinter Lachen kann sich auch Kummer verbergen. (Spr 14,13; Basisbibel) Und Jesus ermahnt wohl nicht zuletzt deshalb seine Zuhörer: Urteilt nicht nach dem bloßen Augenschein. (Joh 7,24; Basisbibel)

Eine Maske, auch wenn sie unsichtbar ist, stellt eine Täuschung dar, ganz gleich, ob die Absichten und die Auswirkungen gut oder schlecht sind. Und die Gefahr ist groß, dass die unsichtbare Maske durch das häufige Aufsetzen zu unserer zweiten Natur wird. Wenn das geschieht, dann kann das Tragen dieser unsichtbaren Maske so unangenehm und anstrengend werden wie das häufige Tragen des Mund-Nase-Schutzes.

 

Die Not dahinter und die Sehnsucht nach Befreiung und echter Begegnung drückt Sabine Naegeli in folgendem Gebet aus:

Ich bin des Maskentragens so müde, mein Gott, und doch kann ich mich meiner Maske nicht entledigen.

Wie oft sieht es so ganz anders aus in mir, als ich mich nach außen hin gebe. Ich habe Angst, mich dem Nichtverstehen auszusetzen, dem Nichtangenommensein, wenn ich mich schwach zeige.

Ich fürchte, ganz allein dazustehen mit meiner Art, Menschen und Dinge zu sehen.

Mir ist bange vor dem unbarmherzigen Zugriff derer,
die vorschnell mit starren Urteilen bei der Hand sind.

Du weißt, dass ich in so Vielem nicht der bin, für den meine Umwelt mich hält.

Mich zu verbergen, verleiht mir ein Stück Sicherheit, aber es macht mich auch einsam. […]
Du siehst mich an, mein Gott.
Du kennst mich.

Vor dir kann ich rückhaltlos ausbreiten, was mich im Innersten bewegt.

Ich bin immer schon verstanden. Ich bin immer schon angenommen.

Deinen Augen bin ich kostbar, wie unansehnlich ich mir selber auch vorkommen mag.

Dein Gedanke bin ich.

Hilf mir, dass ich mich sehen lerne im Spiegel deines Angesichtes. Amen.

(Gebet aus: Sabine Naegeli, Du hast mein Dunkel geteilt. Gebete an unerträglichen Tagen, Verlag Herder, 6. Auflage 1987, S. 80f., mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Oktober 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Wir erinnern uns in diesen Tagen an Edith Stein. Sie wurde am 12. Oktober 1891, also vor 130 Jahren, als Tochter einer jüdischen Familie in Breslau geboren. Sie war das jüngste von elf Kindern. Ihr Vater, ein Holzhändler, starb, als sie ein Jahr alt war. Die Mutter führte das Geschäft erfolgreich weiter und ermöglichte ihren Kindern ein Studium. Edith Stein studierte Germanistik, Geschichte und vor allem Philosophie. Als Jugendliche mit 14 Jahren hatte sie bekannt, sie sei Atheistin. Im Alter von 30 Jahren las sie die Biografie der Heiligen Theresa von Avila, einer bedeutenden Ordensfrau und Mystikerin des 16. Jahrhunderts. Das war ein Wendepunkt in ihrem Leben: Edith Stein wandte sich dem katholischen Glauben zu und ließ sich 1922 taufen. Sie war immer eine Suchende, und schließlich fand sie Gott neu im christlichen Glauben. In einem ihrer vielen Briefe schreibt sie: „Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“ (ESGA 3, Brief 542).

Mich beeindruckt Edith Stein, weil sie sich trotz aller widrigen Zeitumstände nicht von ihrem Weg abbringen ließ. Sie war hochgebildet, promoviert und ihre Zulassung zur Habilitation scheiterte viermal an einem einzigen Faktum: Sie ist eine Frau. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, weiter zu forschen und wissenschaftliche Texte zu publizieren. Sie hat ihr öffentliches Wirken auch nicht eingestellt, als sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 als geborene Jüdin und bekennende Christin gleich doppelt ins Visier der NS-Ideologen geriet. 1942 wurde sie zusammen mit ihrer Schwester Rosa Stein nach Ausschwitz deportiert und dort am 9. August ermordet.

Über Edith Stein wird berichtet, dass sie viel gebetet habe, auch schon, bevor sie 1933 in den Orden der Karmelitinnen eingetreten ist. Sie hat Gott alle ihre Sorgen anvertraut - um ihr persönliches Leben, das Schicksal des jüdischen Volkes, die Zukunft Deutschlands, den Frieden in Europa und vieles andere. Im Gebet hat sie ganz offenbar Frieden, Klarheit und eine innere Gewissheit über ihren Weg gefunden.

Eines ihrer Gebete möchte ich nachsprechen:

Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen
leg ich diesen Tag in deine Hand.

Sei mein Heute, sei mein gläubig Morgen,
sei mein Gestern, das ich überwand.

Frag mich nicht nach meinen Sehnsuchtswegen,
bin aus deinem Mosaik ein Stein.

Wirst mich an die rechte Stelle legen,
deinen Händen bette ich mich ein.

Amen.

Wir leben heute in einer Zeit, in der es viele Verunsicherungen gibt. Menschen suchen nach Antworten auf die Herausforderungen in der Gesellschaft. Die Spaltung überwinden, das Klima retten, Frieden und Demokratie und Toleranz stark machen – so viele große Aufgaben. Edith Stein kann da ein gutes Vorbild sein, auch als Brückenbauerin zwischen Juden und Christen. Sie ist die Herausforderungen ihrer Zeit mit Beharrungsvermögen, mit Gelassenheit und mit Glaubensstärke angegangen. Hartnäckig, getrost und voll Gottvertrauen – so möchte ich leben – mindestens heute.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, September 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Die Wegstrecke von Jerusalem hinunter nach Jericho ist 27 km lang. Jerusalem im judäischen Bergland liegt 790 m hoch, Jericho im Jordangraben 250 m unter dem Meeresspiegel. Der Höhenunterschied beträgt also 1040 Meter. Vor 2000 Jahren wand sich zwischen beiden Städten ein einsamer Bergpfad durch die wüstenhafte Landschaft. Kein Wunder, dass Räuberbanden des Öfteren die Einsamkeit dieses Weges zu Raubüberfällen nutzten. Jesus erzählt in einem seiner Gleichnisse davon (Lk 10,30-35; Basisbibel):

„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho. Unterwegs wurde er von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn bis aufs Hemd aus und schlugen ihn zusammen. Dann machten sie sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Nun kam zufällig ein Priester denselben Weg herab. Er sah den Verwundeten und ging vorbei. Genauso machte es ein Levit, als er zu der Stelle kam: Er sah den Verwundeten und ging vorbei.“

Viel wird nicht erzählt über den Priester und den Leviten. Wir erfahren nichts über die Beweggründe ihres Handelns bzw. ihrer Unterlassung. Schlussendlich tun sie ja nicht viel. Sehen, vorbei gehen – das sind die einzigen zwei Verben, die den beiden unisono zugeordnet sind. Verben sind Tun-Wörter, Tätigkeitswörter. Priester und Levit tun nicht viel; sie werden zugunsten des Verletzten nicht tätig. Im Fortgang der Gleichniserzählung Jesu beginnt dann allerdings ein wahrer Verben-Regen – Tun-Wörter en masse –, als eine dritte Person am Schauplatz des Überfalls vorbeikommt:

„Aber dann kam ein Samariter dorthin, der auf der Reise war. Als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und pflegte ihn. Am nächsten Tag holte er zwei Silberstücke hervor, gab sie dem Wirt und sagte: ›Pflege den Verwundeten! Wenn es mehr kostet, werde ich es dir geben, wenn ich wiederkomme.“

Mehr als 10 Verben/Tun-Wörter in kaum mehr als 5 Sätzen. Ich bin jedesmal neu beeindruckt. Der Samariter scheut weder Mühen noch Kosten, um dem ihm vermutlich völlig Fremden und halb tot Zurückgelassenen wieder zurück ins Leben zu helfen. Das selbstlose und vielfältige Handeln des Samariters wird mit dem schönen Wort ’barmherzig’ zusammengefasst. Der barmherzige Samariter. Barmherzigkeit beschreibt eine Charaktereigenschaft, eine innere Haltung, genauso aber auch ein Verhalten, ein Tätigwerden. Herz und Hand gehören zusammen. Der Samariter ist ein Beispiel tätiger Nächstenliebe – als ob es untätige Nächstenliebe gäbe! „… geh und mach es ebenso!“, sagt Jesus am Ende des Gesprächs, in dessen Verlauf er das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt hat.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, September 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Neulich ist mir in einem Gottesdienst folgende Liedstrophe begegnet:

Wer hat mich wunderbar bereitet?
Der Gott, der meiner nicht bedarf.
Wer hat mit Langmut mich geleitet?
Er, dessen Rat ich oft verwarf.
Wer stärkt den Frieden im Gewissen?
Wer gibt dem Geiste neue Kraft?
Wer lässt mich so viel Glück genießen?
Ist’s nicht sein Arm, der alles schafft?

Es ist die zweite Strophe des Liedes „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“ Es steht im Evang. Gesangbuch unter der Nummer 607. Geschrieben hat den Liedtext Christian Fürchtegott Gellert 1757.

Wer stärkt den Frieden im Gewissen?
Wer gibt dem Geiste neue Kraft?
Wer lässt mich so viel Glück genießen?
Ist’s nicht sein Arm, der alles schafft?

So weit, so gut. Mit den gestellten Fragen und den Antworten soll Gott gelobt werden.
Das kann ich mir gut zu eigen machen. Ein Problem bereitet mir aber die erste Zeile:

Wer hat mich wunderbar bereitet?
Der Gott, der meiner nicht bedarf.

Wie bitte? Erst hat Gott mich wunderbar bereitet – und dann braucht er mich gar nicht?! Da regt sich bei mir Widerstand. Ich überlege, wie das bei uns ist. Wer von uns bindet denn einen wunderbaren Herbststrauß mit viel Liebe und stellt ihn danach in den Kartoffelkeller? Wer bereitet mit viel Liebe ein köstliches Essen und lässt es dann in der Küche unbeachtet kalt werden? Wer unter uns hat einen Menschen lieb und braucht ihn nicht?! Die Liebe macht dabei den Unterschied. Je größer die Liebe ist, desto stärker sind das Vermissen und das Bedürfnis nach dem Gelingen der Beziehung, nach Austausch und Nähe. Ich brauche Dich, weil ich Dich liebe! Was schon in unserer unvollkommenen menschlichen Liebe so ist, das kann doch in der vollkommenen Liebe Gottes nicht anders sein. Die Liebe macht den Unterschied.…seine [nämlich Gottes] Liebe zu ermessen, sei ewig meine größte Pflicht. Der Herr hat mein noch nie vergessen, vergiss, mein Herz, auch seiner nicht! heißt es noch in der ersten Strophe von Gellerts Gedicht. Aber ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur, dass Gott uns nie vergisst, möchte ich als Folge seiner Liebe sehen, sondern mehr noch, dass er unser bedarf, ja, dass er sich nach uns sehnt.

Warum ist es uns so fremd, den Glauben als eine wechselseitige Liebes-Bedürftigkeit zwischen Gott und uns Menschen zu sehen?
Warum ist so schwer anzuerkennen, dass es neben einem „zahnwehhaften Gottesschmerz der Welt“ auch einen „unerhörten Weltschmerz Gottes“ (Gotthard Fuchs) gibt?

Wer hat mich wunderbar bereitet?
Der Gott, der meiner sehr bedarf.

Ich brauche Dich, weil ich Dich liebe! Es mag für Gott eine heikle Situation sein, dass seine werbende Liebe nach uns Menschen häufig zurückgewiesen wird. Eine liebende Antwort unsererseits ist z.B., uns der geringsten Schwestern und Brüder anzunehmen, Gottes Schöpfung zu bewahren, Gott zu loben – Wie groß ist des Allmächt’gen Güte! –
und im Vertrauen auf seine Gegenwart zu leben.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juli 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


In den vergangenen Wochen haben wir immer mal wieder mit bangem Blick in den Himmel geschaut – den atmosphärischen. Dorthin, wo das Wettergeschehen sich abspielt und wo sich Unwetter zusammenbrauen. Wir haben’s erlebt. Wahre Wolkengebirge türmten sich bedrohlich auf und zogen als dunkle Walze über das Land.

Als wir neulich zum Gemeindeforum in der Johanneskirche in Sondelfingen versammelt waren und der Hagelsturm die Buntglasfenster der Westseite zum Schrecken aller Anwesenden zerschlug, musste ich unwillkürlich an Elia am Berg Horeb denken. Elia hat dort eine Gottesbegegnung, von der es u. a. heißt: Und siehe, der Herr ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. (1. Kön 19,11)

Wie und wo Gott in den Naturereignissen – besser gefragt: wie und wo der Schöpfer in seiner Schöpfung – anwesend und erkennbar ist, ist eine komplexe Fragestellung. Durch die Flutkatastrophe in einigen Bundesländern sind die Fragen dazu noch drängender geworden. (…) Immerhin bleibt uns aus der Elia-Geschichte der Satz, dass Gott nicht im Sturm sei – übrigens auch nicht im Erdbeben und nicht im Feuer. Und es bleibt uns mit den von schwerem Leid Getroffenen die Klage aus dem Hiobbuch: Berge stürzen in sich zusammen, Felsen rollen von ihrem Ort ins Tal. Wasser zerreibt den harten Stein, Platzregen spült den Ackerboden fort. Und was ist mit der Hoffnung des Menschen? Auch die zerstörst du mit Gewalt. (Hi 14,18f)

Doch von einer anderen als einer Unwetterwolke soll noch die Rede sein. Der Verfasser des Hebräerbriefes spricht von einer „Wolke von Zeugen“ (Heb. 12,1), nachdem er Frauen und Männer aufgezählt hat, die für ihn Vorbilder im Glauben sind. Die „Wolke der Zeugen“ – was für ein schönes Bild für die Menschen, die auf Gott vertrauen! Eine weiße Schönwetterwolke? Eine Menschen-Wolke in Gottes Himmel. Sara und Abraham sind dabei, ebenso Jakob, Joseph und Rahab. Das sind freilich alles andere als glatte Biographien, die uns da vorgestellt werden. Denken wir an Sara und Abraham, die ihre angestammte Heimat verlassen, und an ihre lange Kinderlosigkeit, an die Verheißung, zu einem großen Volk zu werden. Denken wir an Joseph, der zunächst von seinen Brüdern gehasst und später zum Retter seiner Familie wird. Denken wir an Rahab aus Jericho, die als Prostituierte von Männern ausgebeutet wird, und dennoch die für sie fremden Kundschafter der Israeliten beschützt.

Seither ist diese „Wolke der Zeugen“ weiter angewachsen. Ja, bis heute kommen immer neue Menschen hinzu, die eine Ermutigung im Leben und eine Stärkung im Glauben sind. Jede und jeder von Ihnen wird solche Menschen nennen können. Es können Menschen sein, die in früheren Zeiten gelebt haben. Biblische Gestalten vielleicht, Dichter und Musiker, Heilige in einem ganz weit gefassten Sinn. Aber auch Menschen in Ihrem gegenwärtigen Lebensumfeld, die Ihnen vielleicht jetzt gerade in den Sinn kommen.

Ich möchte zum Schluss an Dietrich Bonhoeffer erinnern, für mich auch einer aus der „Wolke von Zeugen“. Er bezahlte seine christlich motivierte Beteiligung am Widerstand gegen die Nazi-Diktatur mit seinem Leben, wie viele andere auch. Aus dem Gefängnis in Tegel schrieb er an seine Verlobte Maria von Wedemeyer die zeitlos beeindruckenden Worte: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juli 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Es ist ein friedvolles Bild. Eine Schafherde grast gemächlich und gemütlich am Hang einer Wachholderheide im Lautertal. Ein Schäfer steht ruhig daneben, beobachtet seine Tiere, gibt gelegentlich Anweisungen an seine Hütehunde. Alles wirkt ruhig und entspannt. Doch plötzlich kommt Bewegung in die Szenerie. Der Hirte geht immer aufgeregter an seiner Herde entlang und um sie herum. Er schaut in alle Richtungen, rennt zu den größeren Büschen in der Nähe und schaut dahinter. Jedes Mal schüttelt er den Kopf. „Wo ist bloß mein 100. Schaf geblieben?“ Dann geschieht etwas Unglaubliches. Der Hirte lässt seine große Herde zurück und beginnt die Suche nach dem verlorenen Tier in der weiteren Umgebung. An den großen Kalkfelsen geht er entlang, steigt ins Tal hinab bis zum Fluss und auf dem Gegenhang wieder hinauf. Mittlerweile bricht schon die Dämmerung herein. So – naja, inhaltlich zumindest so ähnlich – erzählt es Jesus seinen Zuhörern. Ich vermute, dass es damals auch bei denen unruhig wurde. Die meisten kannten sich schließlich mit der Schafhaltung aus. „Was, der lässt seine große Herde allein, um ein einziges Schaf zu suchen?! Jetzt, da es wieder Wölfe in der Gegend gibt?! Niemals! Das ist doch wohl ein Witz!“

Und was soll ich ihnen sagen: die so reden, haben ja recht. Ein Hirte handelt nicht so. Nicht heute im Lautertal und nicht damals im galiläischen Bergland.

Warum nimmt die Erzählung Jesu dann diese Wendung? Nun, Jesus hält ja keine Fortbildung für Schafhirten ab. Wenn Jesus Gleichnisse erzählt, geht es ihm immer um das Reich Gottes und um die Beziehung Gottes zu den Menschen. Und wenn sich die Zuhörer an einer bestimmten Stelle des Erzählens belustigt oder entsetzt an den Kopf greifen, wenn sie Jesu Worte für einen Witz halten, dann genau wird es ernst. Dann ist vielleicht auch die Aufmerksamkeit da für die Pointe dieser Geschichte: Gott geht jedem einzelnen Menschen nach, auf seinem jeweils eigenen Weg. Niemand soll verirrt und einsam zurückbleiben. Niemand soll sagen, sie oder er sei nicht wichtig, eine zu vernachlässigende Größe im Universum. Nein! Mich erinnert das an eine Strophe aus dem bekannten Kinderlied „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“:

Weißt du, wie viel Menschen (ich sage Menschen, nicht Kinder) frühe / steh’n aus ihren Bettlein auf, dass sie ohne Sorg' und Mühe / fröhlich sind im Tageslauf? Gott im Himmel / hat an Allen / seine Lust, sein / Wohlgefallen, kennt auch dich und hat dich lieb.

Das sagt und singt sich so leicht, nicht wahr? Tatsächlich spricht ja auch Jesus von der Möglichkeit eines guten Ausgangs der Hirtengeschichte: Wenn er’s gefunden hat, [sein Schaf] so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. (Lk 15,5)

Die Wirklichkeit, die wir kennen, ist manchmal härter. Viel härter. Wir wissen, dass Menschen auf der Strecke bleiben. In vielen Situationen scheint ein Menschenleben nicht viel Wert zu sein. Doch gerade dann möchte ich Trotzkraft zeigen und behaupten: Gott geht jedem einzelnen Menschen nach, auf seinem jeweils eigenen Weg. Sogar noch über den Tod hinaus.

Gott im Himmel hat an Allen seine Lust, sein Wohlgefallen, kennt auch dich und hat dich lieb!
 

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juni 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

Der Ball rollt. Die Fußball-Europameisterschaft hat begonnen. Formulierungen wie „Die Fan-Gemeinde ist versammelt“ – „Sie glauben fest an den Sieg“ – „Bringt ein Freistoß die Erlösung?“ – „2:0, es ist vollbracht“ werden wir aus dem Mund der Kommentatoren zu hören bekommen oder in der Zeitung lesen. Die religiös gefärbte Sprache, die Rituale und Gesänge in den Stadien und anderes lassen manche Beobachter vermuten, der Fußball sei eine Ersatzreligion und die Hingabe der Fans ein Glaubensersatz. Da mag durchaus etwas dran sein. Für mich ist beides wichtig und beides muss sein: Die Beziehung zu Gott im Glauben als die wichtigste Hauptsache im Leben, der Fußball allerhöchstens als wichtige Nebensache.

Ich sehe auch die im Grunde unvergleichbaren Unterschiede zwischen beidem und möchte dies an zwei alten Fußballsprüchen erläutern: Der Ball ist rund – Ein Spiel dauert 90 Minuten.

Der Ball ist rund – eine Kugel. Eine Kugel hat keine Ecken und Kanten, ihre Fläche ist ohne Anfang und Ende, sie ist ein Symbol der Vollkommenheit. Aber: Die Kugel ist kein Bild Gottes, jedenfalls kein biblisches. Gott scheint nicht rund zu sein im Empfinden und in den Erfahrungen, die Menschen mit ihm gemacht haben und machen. Und folglich ist auch der Glaube nicht einfach eine ’runde Sache’.

Die in der Bibel erzählte Geschichte Gottes mit einzelnen Menschen und mit dem Volk Israel ist von Brüchen gekennzeichnet. Um es in der Fußballersprache zu sagen: wenig Spielfluss, viele Fouls, gelbe und rote Karten. Die handelnden Personen zeigen Ecken und Kanten. Denken wir z. B. an Jona. Ihm ist Gottes Auftrag lästig. Er flüchtet vor Gott und entkommt ihm dennoch nicht. Denken wir an den jungen Mann, der gerne mit Jesus gehen würde, dem aber sein Besitz einen Strich durch diese Absicht macht. Traurig geht er weg. Denken wir an Paulus, der zunächst aufs falsche Pferd setzt, indem er die Christen bedrängt und verfolgt, bis ihn Gott von seinem hohen Ross stößt, ihm die Augen zuerst schließt und dann neu öffnet. Er wird zum Apostel, der uns Europäern die Gute Nachricht von Kreuz und Auferweckung Jesu verkündigt hat. Denken wir an uns selbst, an unseren Glauben, bei dem auch nicht alles rund läuft. An die Zweifel, die uns plagen angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt und angesichts der Schwierigkeiten und Sorgen im engeren Lebensumfeld. An beidem sind wir selbst oft ursächlich beteiligt. Aber – und das ist wichtig: Denken wir auch an das, was gelingt und was schön ist im Glauben.

Im Psalm 18(,30.37) heißt es:
Mit dir kann ich Wälle erstürmen
und mit meinem Gott über Mauern springen.
Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken.

Fast schon Fußballersprache. Apropos, da ist ja noch die andere Fußballweisheit:

Ein Spiel dauert 90 Minuten. 90 Minuten Spannung und Gelegenheit zu gewinnen, aber halt auch zu verlieren. Am Ende dann Freude oder Enttäuschung. Da hat der Glaube mehr zu bieten. Er möchte das ganze Leben umfassen und weist darüber hinaus. Der Glaube bewährt sich in der Zeit und wird vollendet in der Ewigkeit.

Hören wir zum Schluss auf Paulus und seine vom Sport beeinflussten Sätze:

Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort liegt für mich bereit die Krone der Gerechtigkeit, die mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird, nicht aber mir allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieb haben. (2. Tim 4,7f)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“ - Juni 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

Wie ist eigentlich Ihr Kontostand? Diese Frage zielt natürlich nicht auf Ihr Bankkonto. Sie wissen ja: wenn’s um Geld geht, Sparkasse. In diesem Impuls geht es mit dieser Frage nicht um’s Geld. Denn wir führen nicht nur Geld-Konten, wir führen auch allerhand andere Konten, z.B. jenes innere Kontobuch, in dem wir unsere Erfahrungen festhalten. Jeden Tag machen wir Eintragungen in dieses innere Kontobuch. Die negativen Erfahrungen versehen wir mit einem Minus – wer weiß, womöglich haben Sie sich heute schon über etwas oder über jemanden geärgert, vielleicht sogar über sich selbst. Und die positiven mit einem Plus – ein freundlicher Blick des Nachbarn beim Verlassen des Hauses, ein nettes Gespräch auf dem Markt, schöne Orgelmusik in der Kirche.

Neben diesen kleinen, fast alltäglichen Erfahrungen gibt es die gewichtigen, die uns länger beeindrucken – als Freude, die uns erhebt, oder als Last, die uns niederdrückt. Kennen Sie das auch, dass die eher negativen Erfahrungen schwerer zu wiegen scheinen? Dass sie eine besondere Kraft und manchmal auch spürbar mehr Macht über uns haben? Ich merke das eine oder andere Mal, dass eine Enttäuschung oder eine wie auch immer entstandene schlechte Stimmung sich auf eine spätere Situation oder eine Begegnung mit einem Menschen auswirken und diese vermiesen kann. Und schon gebiert die eine negative Erfahrung die nächste.

Jesus weiß um diese Gefahr und macht sie seinen Jüngern bewusst. Als er sie aussendet, um in den Dörfern ringsum die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden, gibt er ihnen mit auf den Weg: Und wenn euch jemand nicht aufnehmen und eure Rede nicht hören wird, so geht heraus aus diesem Hause oder dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. (Mt 10,14) Schüttelt den Staub von euren Füßen! Lasst die negativen Erfahrungen hinter euch zurück! Nehmt sie nicht mit! Lasst nicht zu, dass die negativen Erfahrungen in euch Bitterkeit, Unfrieden, vielleicht sogar Hass hervorrufen! Geht unbeschwert weiter und seid offen für neue, hoffentlich gute und schöne Erfahrungen.

Also: Einmal schütteln und sich frei machen vom Ärger über sich selbst. Einmal schütteln und die Enttäuschung über eine unfreundliche Bemerkung eines Kollegen loswerden. Einmal schütteln und… – ja, das ist leichter gesagt als getan. Was, wenn die schlechten Erfahrungen hartnäckig das bleiben, was sie sind? Wenn das innere Konto überzogen bleibt? Dann gibt es noch die Möglichkeit, das Konto durch Einbuchungen guter Erfahrungen auszugleichen oder sogar ins Positive, ins Plus zu wenden.

Johann Wolfgang von Goethe macht dazu folgenden Vorschlag:

„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“

Alle Tage, täglich. Naja, einen Versuch wär’s wert. Ich möchte gerne noch hinzufügen:

Man könnte alle Tage eine kleine Zeit der Stille vor Gott aushalten; einem Wort der Bibel Gelegenheit geben, dass es mich erreicht; für eine Situation oder einen Menschen im Gebet einstehen und, wenn es möglich zu machen wäre, …

Sie finden selbst eine Fortsetzung.

Sollte, könnte, ma sott halt, gell, ma könnt doch … – es geht dabei nicht um‘s Moralisieren, sondern darum, gute Erfahrungen möglich zu machen.

In diesem Sinne: Möge die nächste Kontoabfrage erfreulich ausfallen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Pfingsten 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Pfingsten sind die Geschenke am geringsten, während Ostern, Geburtstag und Weihnachten was einbrachten“, so sagte es einmal Bertolt Brecht in diesem etwas gequälten Reim. Eventuell dachte er dabei an Materielles, an Geschenke für Kinder, die zum Pfingstfest ja tatsächlich ausbleiben. Auch im Kirchenjahr nimmt die Pfingstzeit, verglichen mit den Weihnachts- und Oster-Festkreisen, einen recht geringen Zeitraum ein. Nach nur einer Woche wird die Pfingstzeit von Trinitatis, dem Dreieinigkeitsfest, abgelöst. Doch in geistlicher Hinsicht ist uns allen zu Pfingsten eine Gabe geschenkt, die nun wahrlich nicht die geringste ist. Die Gabe des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist gekommen um zu bleiben, über den Tag und über die Pfingstwoche hinaus.
Was hat es mit diesem Heiligen Geist auf sich?
In der christlichen Kunst wird der Heilige Geist oft in Gestalt eines Vogels, nämlich als Taube dargestellt. Die Taube stand in der Antike für Reinheit und Liebe. Es ist auch ein biblisches Bild: Nach der Taufe Jesu im Jordan öffnet sich der Himmel und der Geist Gottes erscheint in der Gestalt einer Taube (Matthäus 3,16). In zahlreichen Darstellungen kommt der Heilige Geist als Taube, also als Vogel, auf dann geistbegabte Menschen hernieder. Man könnte also salopp sagen: Wer den Heiligen Geist empfangen hat, hat einen Vogel. Natürlich hat das bei uns zunächst einen negativen Klang, ist aber nicht so weit entfernt, von dem, was am ersten Pfingsten in Jerusalem manche über die Jüngerschar gesagt hatten: Sie sind voll süßen Weins – die sind besoffen. Wie das? Aus traurigen, verängstigten, zurückgezogenen Jüngern waren mutige, in die Öffentlichkeit hinaustretende Bekenner der Auferweckung Jesu geworden. Der Heilige Geist verändert Menschen, manchmal eben nicht zu knapp und für andere schwer nachvollziehbar. Das tut er bis heute. Und so geben Christinnen und Christen die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht auf. Sie schauen hin und bringen sich ein, wo ihre Stimme wichtig und wo Hilfe notwendig ist, in der Nachbarschaft wie in der weiten Welt. Sie lassen nicht ab, für die Welt zu beten. Und soll jemand sagen, wir hätten einen Vogel, dann pfeifen wir drauf: „Der Geist von Gott weht wie der Wind“ (EG 556)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Mai 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Rogate – Betet!

Der Name des letzten Sonntags und damit das Motto dieser Tage hat Aufforderungscharakter. Rogate – Betet! Ja, müssen wir denn zum Beten aufgefordert werden? Brauchen wir Christenmenschen tatsächlich diesen Anstoß? Na los, betet!?

Manchmal geht es auch von selbst. Da können wir gar nicht anders. In der Bibel wird die Geschichte von der Stillung des Sturms auf dem See Genezareth erzählt. Die Jünger rudern mit dem schlafenden Jesus im Boot ans andere Ufer. Dann erhebt sich ein Sturm und das Wasser wird zu bedrohlich hohen Wellen aufgepeitscht. Die Jünger tun im Sturm das, was sie gut können; es sind ja Fischer darunter, rudern können die. Es ist gut und notwendig, dass sie ihr ganzes Können einsetzen, sonst würde das Boot über kurz oder lang kentern. Aber diesmal kommen sie an ihre Grenzen. Rudernd, was das Zeug hält, wenden sie sich an Jesus, genauer gesagt, sie schreien nach ihm: „Jesus, wach auf! Kümmert es dich denn gar nicht, dass wir alle sterben werden?!“ Sich an Jesus wenden, auch wenn es schreiend geschieht, das ist eine Form des Betens. Und so zeigen die Jünger damals im Boot, was auch wir heute tun können, wenn über uns die Wellen zusammenschlagen. Ganz bestimmt fallen Ihnen Lebensstürme ein, zurück liegende oder aktuelle. Auch in den stürmischen, düsteren und gefahrvollen Phasen unseres Lebens heißt es rudern, was das Zeug hält – wenn wir’s können – und um Hilfe rufen. „Herr, erbarme dich!“ Anders gesagt: Unsere Gaben tatkräftig einsetzen und unser Gebet nachdrücklich vor Gott bringen, am besten beides ineinander. Martin Luther sagte einmal: Man muss beten, als ob alles Arbeiten nichts nützt, und arbeiten, als ob alles Beten nichts nützt.

Zum Glück sind wir im Leben auch oft in ruhigen Gewässern unterwegs. Dann tut ein auffordernder Hinweis ganz gut, damit das Beten als wichtige Verbindung zu Gott nicht einschläft. Das Läuten der Glocken kann ein solcher Hinweis sein. Die Dauer des 6-Uhr-Läutens am Morgen z.B. reicht aus, um den 23. Psalm zu beten und so den Tag zu beginnen. Der Herr ist mein Hirte… Das Mittagsläuten um 12 Uhr ist eine Einladung zum Innehalten, hier in der Kirche bei Orgelmusik und Gedanken oder wo immer wir gerade sind und die Glocken hören.

Auch gute Gewohnheiten wie das Tischgebet oder ein Tagesabschluss sind kleine Aufforderungen zum Beten. In eigenen oder geliehenen Worten oder einfach im stillen Bedenken kann so viel zur Sprache kommen: Dank und Gotteslob, Bitte und Fürbitte, Klage und sogar Anklage. Die Lieder des Gesangbuchs sind dabei wie eine Schatzkiste. Dazu noch einmal Martin Luther: Wer singt, betet doppelt. Diesen schönen Satz hatte Luther bei Augustinus gelesen.

Und wo uns Worte fehlen oder wenn wir einfach still sein möchten, kann sich dennoch Gebet ereignen. Das ruhige Da-Sein vor Gott ist eine besonders schöne Form des Betens. Teresa von Avila, die auch eine Lehrerin des Gebets ist, schreibt: Beten ist Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.

Rogate – Betet! Beten als Notschrei, regelmäßiges Beten im Tageslauf, Beten als schlichtes Da-Sein vor Gott – das sind drei Aspekte des Betens. Beten hat viele Seiten, aber für heute lassen wir es bei diesen drei Aspekten bewenden …

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Die Sonntage vor und nach Ostern tragen besondere Namen und geben den entsprechenden Wochen ein Thema. Am 18. April war der Sonntag Misericordias Domini – die Barmherzigkeit des Herrn. Dieser Name ist eine Gelegenheit, an die Jahreslosung für das Jahr 2021 zu denken. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! (Lk 6,36) Wir können uns erinnern, dass wir mit dem ganz ähnlich klingenden Wort warm-herzig dem Begriff barmherzig schon recht nahekommen.

Misericordias Domini ist eine lateinische Bezeichnung der Barmherzigkeit Gottes. Übersetzungen in der Lutherbibel sprechen auch von der Güte des Herrn. Güte, Barmherzigkeit – diese Begriffe benennen eine innere Haltung. Aber da ist noch mehr. Aus dem Wort Misericordias lässt sich heraushören: miseriis cor dare, das heißt: den Erbärmlichen, den Elenden das Herz schenken. Den Bedürftigen das Herz schenken. Das weist auf ein aktives Handeln hin. Die Jahreslosung Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! hört sich dann im Sinne der Misericordias so an: Schenkt euer Herz den Bedürftigen, wie auch euer Vater den Bedürftigen sein Herz schenkt.

Es wird Zeit, dies einen Schritt konkreter zu denken. Dazu gibt der Wochenspruch aus dem Johannesevangelium Hinweise. Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben. (Joh 10, 11a. 27-28a)

Unweit der Schwäbischen Alb lebend, können wir mit dem Bild eines guten Hirten mit seiner Schafherde vermutlich etwas anfangen. Was tut denn ein guter Hirte für seine Schafe? Er geht ihnen voran, weil er Wege und Ziel kennt, grüne Auen und Wasserstellen. Er spricht mit den Schafen und kann mit seiner Stimme beruhigend auf sie einwirken. Er bleibt bei ihnen und hat ein wohlwollendes Auge auf sie. Erkennt er einen unrunden Gang bei einem Tier, schneidet er die Klauen oder beseitigt eingetretene Dornen; dazu packt er auch schon mal recht robust zu. Er schützt die Herde vor Bedrohungen, auch wenn er dafür selbst ein Risiko eingehen muss. Entfernt sich ein Tier von der Herde, gibt ein guter Hirte es nicht einfach auf, weil er ja noch genug andere hat. Er geht ihm nach und bringt es zurück, wenn es anders nicht geht, dann auf seiner Schulter. Ohne die stetige Fürsorge des Hirten ist die Herde schnell zerstreut und die Schafe sind in Gefahr. Der gute Hirte weiß um die Bedürftigkeit seiner Schafe. Er hat ein Herz für sie und widmet ihnen seine Zeit.

So jedenfalls waren die Haltung und das Handeln Jesu, wie dies uns die Evangelisten in vielen Geschichten und Erzählungen nahebringen. Jesus Christus ist in besonderer Weise dieser gute Hirte, der den Bedürftigen sein Herz schenkt, mit aller Konsequenz, bis in den Tod hinein und durch ihn hindurch: … und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Dies noch konkreter in unsere Leben hinein zu denken, fällt mir schwer. Ich kann nicht wissen, wo in Ihrem Lebensumfeld ein Vorangehen vonnöten ist, wo ein beruhigender Zuspruch, wo ein robustes Zupacken, wo ein geduldiges Nachgehen. Ich kann nicht wissen, ob und in welcher Weise Sie selbst des einen oder anderen bedürfen. Da sind im Umgang miteinander Aufmerksamkeit und Phantasie jedes Einzelnen gefragt. Aufmerksamkeit und Phantasie, das sind geheimnisvolle Motoren aus Verstand und Herz.

Ich wünsche uns allen, dass wir diese Antriebe aus dem Dank für die Misericordias Domini heraus füreinander zum Laufen bringen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Da wir in der Osterzeit sind, möchte ich heute an das Osterlachen erinnern. Ja, ich möchte mich sogar ausdrücklich für das Osterlachen aussprechen. Im Spätmittelalter war in den Ostergottesdiensten schallendes Gelächter durchaus üblich. Pfarrer ahmten Tierlaute nach, schnitten Grimassen oder brachten die Gemeinde mit Witzen zum Lachen. Risus paschalis – das Ostergelächter – nennt die Liturgie diesen etwas skurril anmutenden Brauch.

Das ist schon erstaunlich: Damals, in einer Zeit, in der das normale Volk nicht selten unter der Knute von weltlichen Herren und von Kirchenfürsten lebte; in einer Zeit, in der die Pest und zahlreiche Kriege wüteten; in einer Zeit, in der einfache Menschen sich oft ohnmächtig wie ein Spielball der Geschichte vorkamen – da gibt es diese eine Nacht, die Osternacht, in der alle über die Mächtigen der Welt und sogar über den Tod aus voller Kehle herzlich lachen.

Wir heute und hier Lebenden haben es ungleich besser. Obwohl nicht alles bestens ist, geht es uns so gut wie noch keiner Generation vor uns. Aber, wenn ich das sage, geht es Ihnen vielleicht auch so wie mir: der lange Schatten von Corona fällt über solche Sätze. Vor einem Jahr fielen die Ostergottesdienste und die Orgelgedanken wegen des totalen Lockdowns aus. Jetzt, ein Jahr danach, sind wir noch immer im Würgegriff dieses Virus’ und leben mit drastischen Einschränkungen, wenn auch aus nachvollziehbar guten Gründen. Ein ganzes Jahr und noch viel mehr … Da kann einem das Lachen schon mal im Halse stecken bleiben. Was da stecken bleibt, ist aber vielleicht nur der unzulängliche Versuch, die Situation wegzulächeln.

Das Osterlachen ist etwas ganz anderes.

Für unsere spätmittelalterlichen Geschwister hatte das Osterlachen einen tiefen, einen theologischen Grund. Im Lachen feierten sie den Glauben an ihren Gott. Im Lachen lobten sie Gott, der mitten im Irrsinn ihrer Welt das Heft in der Hand hat. Im Lachen lachten sie den allgegenwärtigen Tod aus, der mit der Auferweckung Jesu Christi seine Macht endgültig verloren hat. An Ostern, o Tod, war das Weltgericht. Wir lachen dir frei ins Angesicht. Wir lachen dich an, du bedrohst uns nicht. (Strophe 3 des Liedes Nr. 219 in: Wo wir Dich loben, wachsen neue Lieder – plus). Seit Ostern gibt es keine hoffnungslosen Situationen und keine hoffnungslosen Fälle mehr. Deshalb kann der Oster-Glaube Kraft und Grund verleihen zu einem Feier-Lachen, einem Lobes-Lachen, einem Tod-Auslachen, das nicht im Halse stecken bleibt.

Es ist ein befreites und ein befreiendes Lachen. Es befreit von der Sorge um sich selbst. Es befreit zum helfenden Hinwenden zu anderen, denn eines ist ja hoffentlich klar: gemeinsam lachen und einander beistehen, das gehört zusammen. In unserem Evangelischen Gesangbuch (S. 455) steht ein Zitat von Eberhard Jüngel, das den Zusammenhang zwischen dem Heilshandeln Gottes, das seinen Höhepunkt im Ostergeschehen hat, und unseren menschlichen Möglichkeiten verdeutlicht: Wo erfahren wird, dass Gott für das Heil der Welt alles getan hat, da kann man für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun. Wo erfahren wird, dass Gott für das Heil der Welt alles getan hat – das ist der Grund zum Lachen –, da kann man für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun – das ist die Motivation zum Handeln.

Am Schluss zurück zum Anfang und zum Osterlachen. Lassen Sie sich ruhig mal durch einen Witz zum Lachen bringen: Ein Gespräch am Gartenzaun irgendwo im Schwäbischen: „I bin jetzt au scho über neunzig. I muaß bald ans Schterba denka. Aber des isch net so arg. Des werd i au no überleba.“

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2021

von Judith Jünger, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei den „Orgel-Gedanken“

 

„Wie geht es Dir? Wie geht es Euch?“ Das werden wir in diesen Zeiten oft gefragt – auch beim kurzen Gespräch auf der Straße mit Nachbarn oder zufälligen Begegnungen mit Freundinnen und Bekannten, die man lang nicht mehr gesehen hat.

Meine Antwort lautet oft: „Gut. Den Umständen entsprechend. Wir schlagen uns wacker.“

Wir schlagen uns wacker – über diesen Nachsatz habe ich nachgedacht – klingt sehr kämpferisch, fast militärisch.

Was könnte ich sonst noch antworten auf die Frage „Wie geht’s“? Und woher schöpfe ich eigentlich die Kraft, um mich wacker zu schlagen?

Im Alltag, den ich seit Monaten im Homeoffice verbringe, wo ich meine Kolleginnen und Kollegen nur am Bildschirm sehe, während ich in meinem Schlafzimmer am Schreibtisch sitze, suche ich gezielt nach Momenten, die meiner Seele gut tun.

Dazu gehören Begegnungen von Angesicht zu Angesicht: Spaziergänge mit einer Freundin, der Plausch mit den Nachbarn, das Geburtstagsständchen an der Wohnungstür.

Was ich auch viel mehr genieße, ist die körperliche, sinnliche Wahrnehmung von Raum, von Architektur. Ich komme mittlerweile fast jeden Samstag zu den Orgelgedanken, weil ich das Liveerlebnis von Musik, von Verbundenheit mit Ihnen allen, von Raum und Licht richtig in mich aufsauge.

Neben dem intensiven Erleben von Begegnung und Raum ist der Blick zum Engel ein dritter Ankerpunkt für mich in diesen bewegten Corona-Zeiten.

Der Blick zum Engel? Ja, der Engel auf dem Turm der Marienkirche.

Wenn ich am Samstag zum Markt gehe und die Wilhelmstraße runterlaufe, leuchtet die goldene Figur mir entgegen und mein Blick wandert automatisch nach oben.

Mittlerweile ist das meine persönliche Challenge geworden: Von wo aus kann ich den Engel sehen? Auf meinem Handy finden sich viele Bilder aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Da sind nicht nur schöne Postkartenmotive dabei. Manchmal ist er nur ganz klein zu sehen, manchmal taucht er über einer grauen Fassade oder zwischen schmuddeligen Ecken auf. Neulich habe ich den Engel sogar doppelt gesehen - wie ein Vexierbild - in einer Spiegelung im Alberhaus, in einem Fenster des Querbaus.

Der Engel lässt mich nicht mehr los. Und meine Suche nach ihm hat mir in den letzten Monaten viele freudige Überraschungsmomente bereitet. Festgehalten auf meinem Handy. Und in meinem Herzen.

„Wie geht’s?“

„Gut!“

„Und sonst?“

„Ich halte nach dem Engel Ausschau.“

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, März 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

Jetzt im März, um den Frühlingsanfang herum, kann das schon mal vorkommen: Sie möchten jemanden besuchen, gehen auf die Haustür zu und entdecken das kleine Schild – Bin im Garten. Wie schön, ein Gespräch im Garten beim Herumgehen zwischen Märzenbechern, Krokussen und Traubenhyazinthen! Vielleicht auch schon gemütlich bei einer Tasse Tee auf einer Gartenbank.

Bin im Garten – dieser Hinweis hilft nicht nur beim Besuch der Nachbarin oder des Nachbarn, er hilft auch bei der Suche nach Gott. In biblischen Geschichten ist Gott oft im Garten zu finden. Nach einer der beiden biblischen Schöpfungserzählungen beginnt die Geschichte Gottes mit den Menschen sogar in einem Garten, dem Garten Eden. Ein Paradies ist dieser Garten, größer und vielfältiger als das beste Gartencenter. Geh aus, mein Herz, und suche Freud… Der Garten Eden ist so groß, dass Gott die Menschen eines Tages darin suchen muss. „Adam, wo bist Du? Mensch, wo bist Du?“ „Bin im Garten, ja“ – aber dann ergibt sich inmitten von Märzenbechern, Krokussen und Traubenhyazinthen alles andere als ein angenehmes Gespräch. Die Einzelheiten möchte ich uns heute ersparen (nachzulesen in Gen 3). Am Ende jedenfalls, so erzählt es die biblische Geschichte, müssen die Menschen vom Garten Eden in den Garten Erde umziehen. Jenseits von Eden ist manches weiterhin erstaunlich paradiesisch, aber zu leben, zusammenzuleben und sich zu versorgen ist hier erheblich mühsamer. Wir merken es beinahe täglich. Jenseits von Eden, das ist der Ort, an dem wir alle heute leben. Reutlingen liegt jenseits von Eden.

Auch dies gehört zum März: Wir sind in der Passionszeit und bedenken die Leidensgeschichte Jesu. In diesem Jesus, dem Christus, geht Gott uns Menschen nach. Er begleitet uns, mehr oder weniger unauffällig, und gibt uns Hinweise, wo wir ihn finden können.

Bin im Garten, höre ich ihn sagen, diesmal im Garten Gethsemane. Der Name leitet sich vom hebräischen Begriff Gath-Schmanim ab (Garten der Ölpressen). Es war also wohl kein Blumengarten mit Märzenbechern, Krokussen und Traubenhyazinthen, sondern ein Garten mit knorrigen Olivenbäumen. In Israel gelten diese bis heute als Bäume des Lebens und der Hoffnung. Genau hier kämpft sich Jesus im Gebet durch die eigene Verzweiflung hindurch zur Annahme seines Leidensweges. Um der Liebe willen bleibt er sich treu und stirbt am nächsten Tag so, wie er gelebt hat: anderen zugewandt und für andere sich hingebend. Gibt es einen Garten mit einem größeren Geheimnis als den Garten Gethsemane?!

Ja, den gibt es. Es ist der Friedhofsgarten am allerersten Ostermorgen. Bin im Garten, nicht im Grab. „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ (Lk 24,5) Der Sieg des Lebens über den Tod ereignet sich in einem Garten. Maria Magdalena hält den auferstandenen Christus zunächst für den Gärtner. Wer will es ihr verdenken?! In einem kurzen Gespräch mit ihm erkennt sie schließlich Jesus und wird zur ersten Zeugin der Auferstehung. Ich möchte mir dieses Gespräch gerne vorstellen inmitten von Märzenbechern, Krokussen und Traubenhyazinthen. Diese Frühblüher im Garten sind mir jedes Jahr neu ein Zeichen des geheimnisvollen Oster-Geschehens, ein Zeichen ganz neuen Lebens. Auch schon jetzt, in der Passionszeit.

Mach in mir deinem Geiste Raum,
dass ich dir werd ein guter Baum,
und lass mich Wurzel treiben.

Verleihe, dass zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben,
und Pflanze möge bleiben.

(Paul Gerhardt, EG 503,14)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Februar 2021

Mit dem Aschermittwoch hat die Passionszeit begonnen die sieben Wochen vor dem Osterfest. Thema der Passionszeit ist die Erinnerung an das Leiden und Sterben Jesu Christi, das mit der Auferstehung am Ostermorgen ein heilsames Ende und sein heilbringendes Ziel findet. Früher begingen die Christenmenschen diese Wochen als Fastenzeit, als eine Zeit des Verzichts. Der Gedanke eines bewussten Verzichts in der Passionszeit setzt sich in unserer Zeit fort in der Aktion „7 Wochen ohne“. Viele Menschen verzichten in diesen sieben Wochen zwischen Aschermittwoch und der Osternacht bewusst auf irgendetwas „Gewohntes“, vielleicht sogar Süchtig-Machendes – auf beispielsweise Schokolade, Alkohol, Fleischkonsum, fleißige Social-Media-Nutzung. Für jede und jeden mag es etwas anderes sein, das hier in den Blick kommen kann, und ich nehme an, Sie wissen ziemlich genau, was Ihr Ding wäre. Die damit provozierte und hinterher mitunter tatsächlich gemachte Erfahrung ist: „Erstaunlich! Es geht tatsächlich auch ohne …“ Mir jedenfalls tut es gut, auf Schokolade und Chips zu verzichten. Ein Schaden wird mir nicht entstehen, ganz im Gegenteil.

Manches, von dem wir glauben, dass es ganz furchtbar wichtig für uns ist, und dass es unbedingt sein muss, und dass es ohne überhaupt nicht geht, hält der Prüfung, ob das tatsächlich so ist, nicht stand. Der Mensch braucht letztlich nur wenig, um glücklich zu sein, und viel Geld und Besitz müssen da eher nicht die wichtigste Rolle spielen.

Was brauchen wir wirklich? Das hinter uns liegende Corona-Jahr hat uns an manche Grenzen geführt und schmerzliche Erfahrungen zugemutet. Jede und jeder von uns kann davon ein Lied singen. Wir mussten vieles Gewohnte loslassen und uns auf Rahmenbedingungen einlassen, die als Zumutung empfunden wurden, auf Situationen, die unvorstellbar schienen. Gemeinschaft, Berührungen, Umarmungen, Nähe, Singen im großen Chor, Feiern mit Freundinnen und Freunden – auf das alles und auf noch viel mehr mussten wir während der Pandemiewellen zur Vermeidung von Ansteckung verzichten.

Was uns wohl dieses Jahr in den kommenden Wochen, die auf das Osterfest zulaufen, zugemutet wird? Ich erinnere mich an den ersten Lockdown über Ostern 2020, an die Zeit ohne Präsenzgottesdienste.

Auch wenn ein Ende der Pandemie noch nicht absehbar ist, bin ich doch zuversichtlich, dass wir als Einzelne und als Gemeinde die Herausforderungen jeder Zeit bewältigen werden, im Glauben an Gottes Güte und Barmherzigkeit, im festen Vertrauen auf die Gegenwart seines Heiligen Geistes und sein Mitgehen an allen Tagen unseres Lebens.

So sind wir wieder einmal mit Gottvertrauen aufgebrochen: hinein in die Passionszeit, durch das Dunkel hindurch, in Richtung der aufgehenden Morgensonne. Gott wird an unserer Seite sein. Wir üben das Loslassen, lassen uns herausfordern, erfahren Wegbegleitung und Beistand.

Das jedenfalls wünsche ich Ihnen – und mir!

Ihr Pfarrer Sven Gallas

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, 02. Februar 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

„Tragt in die Welt nun ein Licht“

Sanglos, aber immerhin durch das schöne Orgelspiel nicht klanglos endet heute, mit dem 2. Februar, der Weihnachtsfestkreis. 40 Tage nach Heiligabend geht eine Zeit voller Bewegung und Begegnung zu Ende. – Wie bitte? Die letzten Wochen waren doch eher von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktvermeidungen gekennzeichnet. Von wegen Bewegung und Begegnung …

Doch: die biblischen Erzählungen des Weihnachtsfestkreises sind voll von Bewegung und Begegnung. Vom römischen Kaiser zur Volkszählung gezwungen, machte sich jedermann auf, „dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt“. Maria und Josef zogen von Nazareth in Galiläa nach Bethlehem in Judäa. Mit der Geburt Jesu kam sogar der Himmel in Bewegung. Vom Himmel hoch kam der Engel zu den Hirten, um ihnen Freude über Freude zu verkünden, „die allem Volk widerfahren soll“. Nachdem die Hirten Jesus begegnet waren, setzten sie sich wieder in Bewegung, um auszubreiten, was sie gehört und gesehen hatten. „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage. Rühmet, was heute der Höchste getan“, möchte man ihnen in den Mund legen. Und dann sind da noch die heidnischen Magier aus Babylonien. Durch eine außergewöhnliche Sternkonstellation gerieten sie in Bewegung, fanden das Jesuskind und beteten es als neugeborenen König an. Und nun, 40 Tage nach der Geburt Jesu, noch einmal Bewegung: Maria und Josef bringen nach einer Vorschrift der Thora ihren Neugeborenen in den Tempel, wo sie Simeon und Hanna begegnen. Damals durfte im Gotteshaus laut gesungen werden und so stimmt Simeon einen Lobgesang an: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lk 2, 29-32)

Als das Licht der Welt wird Jesus gepriesen. Diese Lichtsymbolik führte dazu, dass der 2. Februar auch als Lichtmess bezeichnet wird. Traditionell wurden an diesem Tag die Kerzen gesegnet, die im ganzen Jahr gebraucht wurden. Deshalb fanden Wachsmärkte, anders gesagt, Licht-Messen statt. Für mich ist das ein schöner Gedanke: Von Weihnachten her soll das Licht in die Welt und in die Zeit hineinleuchten. Mein Vorschlag: Lassen wir uns doch bewegen, das Licht von Weihnachten, die Botschaft von der Gegenwart Gottes, in die nächste Zeit und in unsere Welt hinein zu tragen. Tragt in die Welt nun ein Licht, sagt allen: Fürchtet Euch nicht! Gott hat Euch lieb, Groß und Klein! Seht auf des Lichtes Schein! – so fordert uns ein Lied auf. Weitere Strophen beginnen mit: Tragt zu den Alten ein Licht…, Tragt zu den Kranken ein Licht…, Tragt zu den Kindern ein Licht… Das kann ganz buchstäblich geschehen, indem wir einem Menschen eine Kerze an die Tür bringen oder ein anderes kleines Geschenk. Aber auch, indem wir einem Menschen übers Telefon begegnen. Da ist sogar das Singen möglich und erlaubt. Für jemanden einen Einkauf erledigen, trägt Licht in die Welt und auch, andere in der Fürbitte in Gottes Licht zu stellen.
So sind Bewegung und Begegnung auf vielfältige Weise möglich, trotz allem.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Januar 2021

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Vertrauen im NEBEL – LEBEN im Vertrauen

Da, wo ich herkomme, in Friedrichshafen am Bodensee, können diese Januartage sehr neblig sein. Die dicke, weißgraue Nebelsuppe hält sich oft den ganzen Tag über. Weil ich mich dort auskenne, ist das aber nicht weiter schlimm. Ich kenne die Wege und weiß, wo ich lang gehen muss, um mein Ziel zu erreichen. In unbekanntem Gelände ist das schon etwas anders. Wenn da der Weitblick vernebelt ist, werde ich unsicher. Wohin muss ich an  der nächsten Wegkreuzung abbiegen? Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Werde ich dort ankommen, wo ich hin wollte? „Seltsam im Nebel zu wandern…“ (Hermann Hesse)

Das neue Jahr ist noch keine zwei Wochen alt. Der Gang hinein in das Jahr 2021 erscheint mir teilweise wie eine Wanderung im Nebel. Natürlich, manches ist klar: Der Ostersonntag ist der 4. April, am 11. Juni beginnt die verschobene Fußball-Europameisterschaft, am 26. September ist Bundestagswahl. Jeder kennt seinen Geburtstag und die Geburtstage seiner Lieben. Das alles wissen wir – und sollten wir es zwischenzeitlich vergessen, erinnert uns ein Hinweis im Kalender daran. Doch das meiste ist unklar: Bleiben oder werden wir gesund? Wohin können wir in diesem Jahr reisen? Werden die Böden ausreichend Niederschläge erhalten? Gibt es bald wieder Gottesdienste mit mehr Besuchern und mit Gemeindegesang? Aus der Erfahrung vergangener Jahre wissen wir, dass auch in diesem Jahr nicht alles glatt gehen wird. Neben Schönem und Gelungenem wird es Widerwärtiges und schwer Erträgliches geben. Im persönlichen Leben und im öffentlichen Bereich um uns herum. Wir wissen, dass wir das meiste von dem, was vor uns liegt, nicht wissen. „Seltsam im Nebel zu wandern…“ NEBEL, rückwärts gelesen, ergibt das Wort LEBEN. Seltsam, im Leben zu wandern. Wer weiß, ob Hermann Hesse, einige Zeit am Bodensee zuhause, dieses Wortspiel NEBEL – LEBEN in seiner Gedichtzeile nicht auch mitgedacht hat. Dennoch: Als Christenmenschen setzen wir unser Vertrauen darauf, dass Jesus Christus in allen Lebenslagen bei uns ist. Weil Vertrauen ein manchmal schwer zu buchstabierendes ABC ist, darf es zunächst auch nur der Wunsch danach sein, vertrauen zu können – der sehnliche Wunsch nach Vertrauen, der dann hoffentlich in neu gestärktes Vertrauen führt.

Den Weg vom Wunsch zur Gewissheit beschreibt folgender Liedtext (Hanns Köbler, EG 209):

Ich möcht', dass einer mit mir geht, der's Leben kennt, der mich versteht, der mich zu allen Zeiten kann geleiten. Ich möcht', dass einer mit mir geht.

Ich wart', dass einer mit mir geht, der auch im Schweren zu mir steht, der in den dunklen Stunden mir verbunden. Ich wart', dass einer mit mir geht.

Es heißt, dass einer mit mir geht, der's Leben kennt, der mich versteht, der mich zu allen Zeiten kann geleiten. Es heißt, dass einer mit mir geht.

Sie nennen ihn den Herren Christ, der durch den Tod gegangen ist; er will durch Leid und Freuden mich geleiten. Ich möcht', dass er auch mit mir geht.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, November 2020

von Pfarrerin Sabine Großhennig


Das Vaterunser ist für mich eines der schönsten Gebete der Bibel. Das Matthäusevangelium überliefert es in seinem sechsten Kapitel. Ich mag dieses Gebet sehr, weil es so einfach ist und ohne Schnörkel und gleichzeitig so tiefsinnig, dass mir immer wieder etwas Neues daran auffällt. So war es vor einigen Jahren im Konfirmandenunterricht, als wir das Vaterunser in der Gebärdensprache, der Zeichensprache der Gehörlosen, gelernt haben.
Das Zeichen für „Vater“ zum Beispiel, gleicht der einer Umarmung. Das erinnert an das Gleichnis, das Jesus erzählt hat: Von dem Vater, der seinem auf Abwege geratenen, heruntergekommenen und wegen seiner Fehler beschämten Sohn entgegen läuft - und ihn mit offenen Armen willkommen heißt. Ohne Vorwürfe tut er das, aber voller Freude darüber, dass sein Kind den Weg nach Hause gefunden hat. So wie dieser Vater, sagt Jesus, ist Gott. Und wenn du zu ihm betest, dann sollst du wissen, dass du mit allem, wirklich mit allem zu ihm kommen kannst, mit dem, was dich freut, mit dem was dir Sorgen macht und auch mit dem, wofür du dich schämst. Gott wartet auf dich - mit offenen Armen.

Bei der Gebärde für „Himmel“ oder „Reich Gottes“ werden die offenen Arme nach oben, zum Himmel gehoben. Diese Geste erinnert daran, dass ich mich beim Beten nach oben, zu Gott hin, öffne. Beten ist ja kein Selbstgespräch. Und auch nicht nur eine Gelegenheit, Gott meine Bitten vorzutragen. Wenn ich bete, öffne ich mich für Gottes Wirklichkeit, die größer und weiter ist als meine eigene. Und da muss ich schon damit rechnen, dass diese Weite auch meinen Horizont verändert, mir sozusagen die Augen öffnet für etwas, das ich vorher nicht sehen konnte. Deshalb beten wir im Vaterunser: „Dein Reich komme“, Gott, und „dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Und deshalb beten wir so gemeinsam.

Auch in dieser Hinsicht kann das Beten meinen Horizont erweitern. Darauf hat mich damals eine Konfirmandin aufmerksam gemacht. Durch die Gebärdensprache fiel ihr zum ersten Mal auf, wie oft das Wort „uns“ oder „unser“ im Vaterunser vorkommt. Wenn ich sage: „Unser Vater im Himmel“, dann erinnere ich mich daran, dass Gott nicht nur mich liebt, sondern ebenso meine Mitmenschen, auch die, die mir vielleicht gar nicht so nahestehen, sogar die, die ich nicht mag oder die mir egal sind. Deshalb beten wir, „unser tägliches Brot gib uns heute“, nicht: Hauptsache, ich habe was ich brauche. Und anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, beten wir: „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Christinnen und Christen rund um diese Erde beten so - jeder in der eigenen Sprache und trotzdem gemeinsam. Und gemeinsam versuchen wir, uns Gottes Wirklichkeit und Liebe zu öffnen und - ein Teil von ihr zu werden.

Wie sagt meine frühere Mesnerin immer so schön am Telefon: Fühlen Sie sich in den Arm genommen! So soll es sein.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Oktober 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Im Oktober finden in den Kirchengemeinden traditionell die Erntedank-Gottesdienste statt. Es ist die Zeit, wenn hierzulande der Großteil der Ernte eingebracht ist. Dabei ernten wir doch in unserer globalisierten Welt das ganze Jahr und essen die Feldfrüchte aus aller Damen und Herren Länder. Ernte-Dank, danken für die Ernte, sollte darum nicht nur ein punktueller Akt im Herbst sein; eher eine Haltung, wie sie im Wort Dankbarkeit zum Ausdruck kommt.

Martin Luther nannte Dankbarkeit „Die wesentliche christliche Haltung“. Damit spricht er aus, dass Dankbarkeit ein wesentliches Merkmal der Beziehung eines Christenmenschen mit Gott ist. Danken ist ein Beziehungswort. Wenn wir danken, dann danken wir jemandem. Einem vielleicht ganz unbekannten Menschen, der uns die Tür aufhält; einem Freund, mit dem wir vieles teilen können; der Partnerin, die uns liebt und erträgt. Auch im Ernte-Dank wenden wir uns einem Gegenüber zu. Wir sagen Danke denen, die mit ihrer Hände Arbeit eine Ernte ermöglichen und die Produkte für uns aufbereiten. Ernte-Dank richten wir aber natürlich auch und vor allem auf Gott, der seine Schöpfung so eingerichtet hat, dass sie hervorbringt, was wir zum Leben brauchen.

Indem wir Gott für die Ernte danken, erkennen wir an, dass wir bedürftig sind und nicht allein die Grundlagen unseres Lebens hervorbringen und erhalten können. Unsere Dankbarkeit ist eine Antwort auf das Vertrauen, das Gott in uns Menschen setzt. Er traut uns zu und mutet uns zu, die Erde zu bebauen und zu bewahren. (Gen 2,15)

Die Erde bebauen und bewahren – das ist wie ein Orgelstück zu vier Händen und vier Füßen: Gottes Hände und Füße und unsere Hände und Füße wirken zusammen. Es geht nicht ohne Gott. Es geht nicht ohne uns. Gott wird immer mitspielen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Gen 8,22) – Gott sei Dank für diese Zusage!

Und unser Part? Der Duden beschreibt eine Haltung, also auch die Dankbarkeit, als eine „innere [Grund]einstellung, die jemandes Denken und Handeln prägt“. Danken – denken – handeln. Das ist unser Part. Danken – denken – handeln. Mit Gottes Hilfe kann es uns dann gelingen, die Erde so zu bebauen, dass wir sie zugleich auch bewahren. Wie wichtig es ist, dass sowohl Gott als auch wir Menschen im Bebauen und Bewahren zusammenwirken, verdeutlicht folgender Witz:

Ums Erntedankfest herum besucht ein Pfarrer seine Bauern. Mit Stolz zeigt ihm einer seinen Betrieb mit den aufgeräumten Feldern, den gut gefüllten Scheunen und Ställen – und dann noch den nagelneuen Traktor. Der Pfarrer ist sehr angetan, gibt dem Bauern aber zu bedenken: „Vergiss nicht, wem du das alles zu verdanken hast! Gott hat bei allem seine Finger im Spiel.“ „Ja, ja, das weiß ich schon“, antwortet der Bauer, „aber, Herr Pfarrer, Sie hätten sehen sollen, wie heruntergekommen der Hof war, als Gott ihn noch allein bewirtschaftet hat.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, September 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Das gehört zu den wichtigen Merkmalen einer evangelischen Kirche: die aufgeschlagene Bibel auf dem Altar. Zwar ist der Glaube der Christen kein Buch-Glaube, sondern ein personhaftes Vertrauen, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis deutlich wird. Dennoch kann der Umgang mit der Bibel der Beziehung zu einem vertrauten Menschen ähnlich sein.

Meine alte Bibel begleitet mich schon jahrzehntelang. Nach so vielen Jahren kenne ich sie zwar noch immer nicht ganz – das ist wohl nie zu erreichen –, aber ich weiß doch eine ganze Menge über sie. Mit Worten von Egbert Ballhorn kann ich sie beschreiben wie eine mir gut vertraute Person:

Manchmal schweigt sie tagelang
und plötzlich kommt ein Satz, der mich trifft.
Hat sie dabei zu mir hingeschaut?
Wie oft setzt sie ihren eigenen Kopf durch!
Sie ist so eigensinnig, aber voller Charme.
Wenn sie lacht, steht die Zeit still.
Und wenn sie weint, zerreißt es mir das Herz.
Aber sie kann auch trösten, mit einer feinen Geste, mit wenigen Worten.

Sie hat ein Gesicht, das man so schnell nicht vergisst.
Die vielen Falten erzählen ihre Geschichte.
Mag sie auch alt sein, sie denkt modern.
Sie hat keine Lust, sich beeinflussen zu lassen.
Sie kennt Gott und die Welt.
Wie ein Wasserfall kann sie reden.
Nicht immer mag ich zuhören.
Manchmal will sie nur, dass ich bei ihr bleibe.
Dann brauche ich viel Geduld und Zeit.
Besonders, wenn sie nur in der Vergangenheit kramt.
Aber sie hat auch Geduld mit mir - und immer Zeit.

Mein ganzes Leben kennen wir uns schon.
Doch wenn sie zornig wird, dann möchte ich nicht schuld sein.
In diesem Zornesregen stehen.
Und gerade dafür liebe ich sie: dass sie so verletzlich ist, empfindlich für alles Leid der Welt.
Und dass sie diesen unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn hat.
Selten antwortet sie, wenn ich sie frage.
Das irritiert mich oft.
Aber irgendwie schafft sie es immer, auf das zurückzukommen, was mir wichtig ist.
Sie ist eine ganz Besondere. (Egbert Ballhorn)

… meine alte Bibel.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juli 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Sommerzeit ist Ferienzeit. Für viele ist ein Standortwechsel angesagt. Weil der Himmel, an dem sonst die Flugzeuge fliegen, fast leer ist, sind die Autobahnen diesen Sommer noch voller. Nach den Beschränkungen der letzten Monate sehnen sich viele Menschen nach einem anderen Ort, um das gewohnte Zuhause einmal hinter sich zu lassen.

Im Markusevangelium (6,31) gibt es einen Satz, der fast wie ein Urlaubs-Tipp klingt: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Jesus sagt dies zu seinen Jüngern. Er hatte sie zuvor ausgesandt, damit sie das Evangelium verkünden und in Wort und Tat für die Menschen da sein sollten. So hatte er es ihnen vorgelebt. Nun waren sie zurückgekehrt und erzählten, was sie getan und gelehrt hatten. Die Jünger müssen wohl sehr erschöpft gewesen sein. Als Begründung berichtet Markus: Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen.

Geht ihr – allein – an eine einsame Stätte – und ruht ein wenig. Wie hören wir diesen Satz? Wir sind in einer anderen Situation als die Jünger. Vielleicht hören wir ihn in Corona-Zeiten so: Achtet auf physical distancing und kommt mal wieder runter.

Wovon herunter eigentlich? Vom hohen Ross, von hohen Ansprüchen, von steilen Zielen oder vom rasant getakteten Alltag? Bei den genannten Beispielen ist es gewiss angebracht: mal ruhen – herunterkommen – entschleunigen. Solche Begriffe hören wir oft, wünschen uns auch, dass es eintritt und kriegen es dann doch oft nicht hin. Das mag teilweise daran liegen, dass wir das aktive Leben und das Arbeiten höher einschätzen als alles andere. Von Martin Luther ist der Satz überliefert: Man kann Gott nicht allein mit Arbeit dienen, sondern auch mit Feiern und Ruhen.

Ruht ein wenig, das kann freilich auch heißen, weiterhin aktiv zu sein, aber eben anders als bisher. In aller Ruhe etwas zu essen – die Jünger hatten dafür nicht genug Zeit gehabt, wie Markus schreibt. Ein Theologie-Professor ermahnte einmal seine Studierenden, darauf zu achten, dass wenigstens einmal am Tag die Nahrungsaufnahme den Charakter eines Mahles habe. Ein schön gedeckter Tisch, das Essen ansprechend hergerichtet, vielleicht ein Moment des Innehaltens, ein kurzes Tischgebet, und eine Weile Zeit, wo möglich eine lange Weile. Sich Zeit lassen, die lange Weile zulassen, in aller Ruhe tun, was zu tun ist, das könnte eine Regel für das Arbeiten und erst recht für die Ferienzeit sein. Sogar, wenn die Ferien ein Aktivurlaub sind.

Eigentlich fahre ich ganz gerne Rad. Doch dieses Jahr habe ich die Vorteile des Gehens und Wanderns wiederentdeckt. Es ist langsamer und es kommt mir ruhiger vor. Ich nehme mehr um mich herum wahr, auch die unscheinbaren Schönheiten am Weg. Es braucht natürlich eine Weile länger, eine bestimmte Strecke zurückzulegen, aber es macht mich zufriedener, dankbarer. Leichter als beim Radfahren kommen und gehen die Gedanken bei mir in der Langsamkeit und der langen Weile des Gehens. Und manche kann ich in aller Ruhe zu einem Gebet werden lassen.

Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. –
In diesem Sinne – und nur in diesem – wünsche ich uns allen eine lang-weilige Ferienzeit!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juli 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Der Weg ist das Ziel.

Egal, wo’s langgeht, wenn’s nur nicht so lang geht. Wir machen den Weg frei!

Wer nicht weiß, wohin er will, braucht sich nicht zu wundern, wenn er keinen Weg findet.

Sinn-Sprüche zum Thema Wege gehen gibt es genug. Das mag daran liegen, dass sich unser Leben zu wesentlichen Teilen auf Wegen ereignet. Unser Leben ist buchstäblich Be-Weg-ung. Manche Wege sind verpflichtend, wie der mindestens neunjährige Schulweg, andere dringend empfohlen, wie der Fußgängerüberweg an einer belebten Straße. Einige wählen wir selbst und gehen sie freiwillig, wie den Kirchgang oder die Fahrradtour. Beim Unterwegs-Sein in einer schönen Landschaft mögen wir den Weg tatsächlich schon als ein lohnendes Ziel empfinden. In der beruflichen Laufbahn – auch dies ein Weg – mag es so sein, dass uns das eigene Wollen vorangebracht hat oder andere den Weg vor uns frei gemacht haben. Wie auch immer, wir machen auf unseren Wegen Er-Fahr-ungen, die in den genannten Sinnsprüchen verdichtet sind. Auf unseren Wegen gelingt uns manches, mal mehr, mal weniger, aber wir scheitern auch. Manchmal fühlen wir uns ausweglos oder verspüren Ungeduld. Zum Glück gibt es Lebensabschnitte der Leichtigkeit und der Schönheit.

Christen deuten ihr Leben als einen Glaubensweg. Sie sind unterwegs im Vertrauen auf Gottes Gegenwart. Als Wegweiser haben sie Texte, die dieses Vertrauen immer wieder neu zu stärken in der Lage sind, wie z.B. das Psalmlied Paul Gerhardts (EG 361): Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.

Über eine Wegweisung hinaus geht das Jesus-Wort aus dem Johannes-Evangelium (Joh 14,6): Ich bin der Weg … und das heißt: Ich bin Euer Ausweg, Weg und Ziel in einem, ich bin Eure Gottesbegegnung, der Sinn Eures Lebens. Sinn und Weg gehören durch ihre Wortherkunft eng zusammen. Das althochdeutsche Wort sinnan bedeutet reisen, streben, gehen. Sinn in seiner ursprünglichen Wortbedeutung steht also für Reise, für Weg – man könnte auch sagen: für Erfahrung. Ein ganz unumgänglicher Weg unseres Lebens ist freilich keine Erfahrung mehr, sondern ein Widerfahrnis – der sogenannte ’letzte Gang’.

Ich bin der Weg, sagt Jesus, und das schließt seine Auferstehung mit ein. Sein Auferstehungsweg degradiert den sogenannten ’letzten Gang’ zum vorletzten und vermag allen unseren Wegen einen unvergleichlichen Glanz zu verleihen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juni 2020

von Pfarrerin Sabine Großhennig


Die größte und reichste Sammlung von Gebeten in der Bibel sind die Psalmen. Sie stecken voller Lebenserfahrung. Sie preisen die Wunder der Schöpfung und die Herrlichkeit Gottes, die in ihr zum Ausdruck kommt. Sie schimpfen über die Bosheit und Dummheit der Menschen, die einander bekriegen und gefährden. Sie bitten um Hilfe in schweren Zeiten und um Vergebung eigener Schuld. Sie erinnern an Erfahrungen von Trost und Hilfe. So spiegeln sie in einer ungeheuer bilderreichen Sprache eine Fülle von Lebenserfahrungen und die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle: Zorn- und Rachegedanken ebenso wie Freude und Angst, Schuld und Glück. Nichts Menschliches ist ihnen fremd. Und so kann es geschehen, dass auch heute noch, zweieinhalbtausend Jahre später, Menschen sich mit ihren Gefühlen, Sorgen und Freuden in den Worten und Bildern der Psalmen wiedererkennen.

Natürlich gelingt das nicht immer. Manchmal sind die Lebensumstände, von denen da die Rede ist, so ganz anders als unsere. Und dann klingen die Worte fremd und fern. Immer wieder aber sprechen die Bilder der Psalmen einen trotzdem ganz direkt an. Mir geht das jedenfalls so, zum Beispiel mit dem 23. Psalm. „Der Herr ist mein Hirte“, so beginnt er in der Übersetzung Martin Luthers. Ich weiß zwar nicht genau, was ein Hirtenleben damals ausgemacht hat. Aber ich verstehe doch was gemeint ist und ich spüre den Trost und das Vertrauen, das aus diesen Worten spricht. So möchte ich Ihnen diesen Psalm heute vorlesen:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Worte hören. Aber für mich strömt dieser Psalm eine solche Ruhe aus, eine ganz große Gelassenheit. Das tiefe Vertrauen auf Gott berührt und tröstet mich und ich bete die uralten Worte gerne mit. Ich bete den Psalm im Krankenhaus mit sterbenden Menschen und ihren Angehörigen, in der Kirche mit der Gemeinde, auch mit Konfirmanden, die ihn nicht zuletzt deshalb mögen, weil er so kurz ist. Oder ich bete ihn am Anfang eines neuen Tages, denn er gibt mir die Zuversicht, dass Gott auch an diesem Tag bei mir ist - und am Ende des Tages, um all das, was mich an ihm beschäftigt, beunruhigt und gefreut hat, in Gottes Hand zu legen.

Denn: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du, Gott, bist bei mir.“

Gott behüte Sie!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juni 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“

„Ich baue eine große Kirche!“

Brütende Hitze lag über dem Weibermarkt. Die Stadt schien in einem Dämmerschlaf zu liegen. Einzig die hellen, gleichmäßigen Hammerschläge des Steinmetzen durchbrachen die mittägliche Stille. Immer wieder, im gleichen Rhythmus. Wochenlang arbeitete Siegfried nun schon an Steinblöcken für eine Fiale mit einer Kreuzblume. Noch war davon wenig zu sehen, zumindest für ein ungeübtes Auge wie das der Bäuerin Sieglinde. In den nächsten Tagen wird sie wieder vorbeikommen, um auf dem Markt ihre Feldfrüchte anzubieten. Dann wird sich jenes altbekannte Gespräch wiederholen: „He, Siegfried, hockst du noch immer vor deinen Steinen und meißelst!? Du klopfst und hämmerst – und wenig ist zu sehen. Wie lange dauert's denn noch? Dein Geklopfe führt doch zu nichts. Die Leute schütteln über dich den Kopf. Du wirst doch nie fertig! Hör auf!“ Und Siegfried antwortete jedes Mal: „Ich tue meine Arbeit und du tust deine. So leben wir beide von unserer Hände Arbeit.“ Aber es bohrte in ihm. Diese ständigen Bemerkungen, als sei seine schwere Arbeit ohne Wert. Für den nächsten Markttag war ihm eine neue Antwort eingefallen. Mit diesem Satz, der ihn schon heute schmunzeln ließ, wird er Sieglinde überraschen: „Ich behaue nicht einfach einen Stein – ich baue eine große Stadtkirche!“

Diese erfundene Geschichte verlege ich in das Jahr 1270, also in die Zeit vor 750 Jahren. Knapp 25 Jahre war an der Marienkirche schon gebaut worden und noch mehr als 70 Jahre sollte es bis zur Fertigstellung dauern. Zurzeit ist die Marienkirche ja wieder eine Baustelle. Eine Steinmetz-Firma arbeitet an der Instandsetzung, u.a. von 5 Fialen einschließlich einiger Kreuzblumen. Doch zurück zur Bäuerin Sieglinde und zu Siegfried. Sieglinde erntete, was sie gepflanzt hatte und brachte es alsbald zum Verkauf. Siegfried bearbeitete weiterhin seine Steinblöcke und hat die Fertigstellung der Marienkirche nicht erlebt.

Beide verkörpern Erfahrungen, die auch wir machen, im Beruf, im Ehrenamt oder ganz privat. Manchmal bringen wir eine Tätigkeit zeitnah und sichtbar zu einem Abschluss – und manchmal brauchen wir viel Geduld und überblicken das große Ganze gar nicht. Die Spannung zwischen beiden Erfahrungen spürt jede und jeder. Und jede und jeder empfindet das Bedürfnis, mit dem eigenen Tun zufrieden zu sein.

Vielleicht liegt der Schlüssel für die Zufriedenheit in dem Ratschlag, den uns der Schreiber des Kolosserbriefes gibt (Kol 3,17): […] alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Für mich heißt das: versuchen, bei allem, was ich tue, Jesus Christus dabei haben zu wollen; versuchen, so zu arbeiten, als arbeite ich in seinem Auftrag – und: dafür dankbar zu sein, in IHM einen Arbeitgeber zu haben, der im Scheitern und im Gelingen zu mir hält. Wo sich die Zufriedenheit über eine Tätigkeit einstellt, da ist es nicht unbescheiden zu sagen: Gott und ich haben das gut gemacht.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Juni 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Ich hab’ ein Kind im Ohr!

Ich hab’ ein Kind im Ohr, das mir manchmal seltsame Dinge sagt: Pflücke doch mal wie früher einen Löwenzahn und puste die Fallschirmchen hoch in die Luft hinaus. – Bleib doch mal stehen und bück’ Dich und beobachte den Käfer eine Weile, der auf Deinem Spazierweg krabbelt. – Hol doch mal die Malstifte aus der Schublade und male ein Bild. – Warum singst Du nicht mal wieder Weißt Du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt …?

Solche Sachen gehen mir von Zeit zu Zeit durch den Kopf – und manchmal werde ich dabei ein bisschen traurig. Dann denke ich: vielleicht zeigen mir diese Gedanken, dass in mir ein Kind lebt. Das Kind, das ich einmal war. Das Kind, das ich einmal gerne war.

Ja, ich hab’ ein Kind im Ohr. Und Sie? Haben Sie auch ein Kind im Ohr? Längst bin ich erwachsen wie Sie vermutlich auch, und irgendwann einmal ist mir von Erich Kästner zu Ohren gekommen: Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch. Dann wäre es also nicht kindisch, dem Vorschlag mit der Pusteblume, dem Käferbeobachten, dem Malen und dem Singen zu folgen? Nein, es wäre menschlich. Nur, wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.

Aber ich habe nicht nur ein Kind und Kästner im Ohr. Ich habe auch Jesus im Ohr. Ich habe Jesus im Ohr und höre ihn sagen: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. (Mk 10,14) und: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Mt 18,3)

Wenn Jesus das sagt, geht es auch um Pusteblumen und Käfer. Um das Staunen über diese kleinen, unscheinbaren Schönheiten. Staunen gehört zum Umfeld des Glaubens. Kinder können staunen. Und Erwachsene? – Umkehren und werden wie die Kinder – da ist nicht gemeint, den Blick nach hinten zu wenden und sich melancholisch und nostalgisch in die vergangene Kinderzeit zurück zu träumen. Umkehren und werden wie die Kinder, das kann heißen, vom Blick nach unten in den Blick nach oben zu wechseln. Wir Erwachsenen möchten gerne oben sein, alles im Griff haben. Und so sind wir in ständiger Gefahr, zu sehr nach unten zu schauen, herab zu schauen auf Waren und Dinge, auf anstehende Aufgaben und schon Geleistetes, herab zu schauen auf andere Menschen. Ein Kind schaut auf. Die Blickrichtung nach oben gehört zum Kindlichsten an einem Kind – schon allein wegen der geringeren Körpergröße. Was ein Kind erwartet, ist über ihm, nicht unter ihm. Alles lässt es sich geben. „Kinder strahlen – von Geschenk.“ (Heinrich Spaemann)

Das Staunen und das Aufschauen. Diese Haltungen mögen es sein, die Jesus meint, wenn er sagt, dass Kindern das Reich Gottes gehört, und mithin jedem Menschen, der erwachsen geworden und Kind geblieben ist. So hat Jesus auch selbst gelebt: Der Aufblick zum väterlichen, mütterlichen, freundlichen Gott ist die Blickrichtung Jesu. Das Aufschauen ist deshalb die Blickrichtung des Glaubens. Der Kirchenraum ist ein guter Ort, diese Blickrichtung zu üben und zu stärken. Die aufstrebende Architektur erleichtert das Aufschauen, zieht den Blick nach oben. Von oben strahlt das Licht in den Raum. Wenn wir den Blick erheben, sehen wir in den Glasfenstern, Bildern und Skulpturen Frauen und Männer, die vor uns geglaubt und ihre Erwartung auf Gott gesetzt haben. Im Aufschauen sehen wir das Bild Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen. Am gekreuzigten und auferstandenen Christus lesen wir den Gott ab, der uns nicht nur in allem Leid nahe ist, sondern der uns in allen Lebenslagen neues Leben verheißt. Ewiges Leben.

Natürlich ist auch mit geschlossenen Augen ein Aufschauen möglich. Die erhabene Musik der Orgel, die den Kirchenraum mit Klängen füllt, ist allemal geeignet, uns innerlich zu erheben und zu erfüllen.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Mai 2020

von Dr. Christoph Hoffmann-Kuhnt, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den Orgel-Gedanken


Pfingsten. Was bedeutet das Wort und das Fest eigentlich? Ich möchte das kurz erläutern: Der Name ist aus dem griechischen Wort ‘pentecosté‘ = 50. Tag (nämlich nach Ostern) abgeleitet und bezeichnet das Ende der Osterzeit. Die biblische Begründung des Pfingstfestes findet sich im Neuen Testament der Bibel, in der Apostelgeschichteim 2. Kapitel, wo die Ausgießung des Heiligen Geistes bzw. die Ausrüstung der Jünger mit dem Geist der Mission beschrieben wird. Dies wird auch als Geburtsfest der Kirche gefeiert.

So weit, so gut. Wenn ich es aber recht sehe, haben wir ziemliche Schwierigkeiten mit dem Erscheinen des ‘Heiligen Geistes‘. Ist die Pfingstgeschichte zu abstrakt, zu wenig konkret? Wie beschreiben wir den Geist, der uns bewegen soll; “wes Geistes Kind“ ist einer, dessen Auftreten und Reden uns befremdlich erscheint? ‘Zungenreden‘ gar, wie wir es von sogenannten Pfingstkirchen kennen, ist vielen höchst suspekt und eher geistlos als geistlich stark.

Ein Bild für das Pfingstgeschehen sind die Feuerflämmchen auf den Köpfen: wo Gottes Geist wirksam wird, da geht den Menschen ein Licht auf; da wird ihnen klar, wovon und wofür sie leben. Ein anderes Bild für den Geist Gottes ist der Wind. In alten Sprachen ist das Wort ‘Geist‘ gleichbedeutend mit Wind, mit Luft und Atem. Und so meinen wir es auch, wenn wir vom ‘frischen Wind‘ reden. Wir verbinden ‘Aufatmen‘ mit frischen Lebensgeistern, mit Aufbruch und Veränderung. Da weicht der Mief überkommener Einstellungen und Traditionen.

Ich frage mich, ob Pfingsten ein Ereignis der Vergangenheit ist, oder ob es noch vor uns liegt.  Wenn ich die Apostelgeschichte richtig verstehe und ernst nehme, dann ereignet sich Pfingsten dort, wo Menschen Aufbruch wagen, Gemeinsamkeiten entdecken und sich füreinander einsetzen. Nicht, weil sie gleiche Frömmigkeitsstile pflegen, gleich gesinnt sind und gemeinsam Stärke zeigen wollen, sondern weil sie sich trotz aller Unterschiedlichkeit und mit verschiedenen Gaben als Gottes Gesandte verstehen. Weil sie Aufbruch und Veränderung in den Köpfen und Hierarchien, in den Märkten und Verteilstrukturen dieser Welt bewirken wollen. Ein neuer Geist ist angesagt. Deshalb haben wir Pfingsten tatsächlich immer vor uns.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“

von Pfarrerin Sabine Großhennig


„Wissen Sie, Frau Pfarrer“, sagte sie zu mir, „am meisten macht mir zu schaffen, dass ich so gar nichts mehr für andere tun kann. Dafür bin ich zu alt. Ich kann eigentlich nur noch hier sitzen und beten.“

Die Frau, die das - vor etlichen Jahren, in meiner früheren Gemeinde- zu mir gesagt hat, war in der Tat nicht mehr jung. Sie war deutlich über 80 Jahre alt, konnte nicht mehr gut laufen, jedenfalls das Haus nicht mehr alleine verlassen. Und äußerlich betrachtet schien es wirklich so, als ob sie nicht mehr viel tun könnte. Aber für mich hat sie etwas sehr Wichtiges getan: Sie hat für mich gebetet – und, sie hat mich etwas gelehrt über das Beten.

Sie war, wie gesagt, deutlich über 80 und hatte ihr Leben lang schwer gearbeitet. Schon als junges Mädchen musste sie auf dem Hof der Eltern tüchtig mit anpacken. Später haben sie und ihr Mann miteinander ein Geschäft aufgebaut. Sie hat fünf Kinder großgezogen. Als die aus dem Haus gingen, hat sie die Schwiegereltern bei sich aufgenommen, später ihre Eltern gepflegt und zuletzt ihren Mann. Im ganzen Dorf war sie dafür bekannt, dass man bei ihr nicht zweimal um Hilfe anklopfen musste. Oh je, dachte ich zuerst, als sie davon erzählte: Wie kann man das schaffen – ein Leben nur im Dienst für andere? Aber je länger sie erzählt hat, merkte ich auch: In gewisser Weise hat sie das auch ein bisschen für sich selbst getan. Es war ihr Lebenselixier, für andere da sein zu können. Nun war sie selbst auf Hilfe angewiesen. Das fiel ihr nicht leicht. Aber zugleich hinderte sie das nicht daran, auch weiterhin für andere da zu sein, und zwar: durch das Gebet. Und ich muss sagen: das hat mich beeindruckt. Ich habe selten in einem Menschen so verkörpert gesehen, dass beten nicht nur eine Sache zwischen einem selbst und Gott ist.

Ich weiß ja nicht, was das Beten Ihnen bedeutet. Aber ich habe den Eindruck, für viele Menschen bedeutet es vor allem, sich selbst und das eigene Leben Gott anzuvertrauen, Gott um Hilfe zu bitten in schweren Zeiten. Und ich kenne das auch von mir selbst, dass ich dann besonders intensiv bete, wenn ich Hilfe brauche. Diese Frau aber bat Gott nicht um Hilfe für sich selbst. D.h., das hat sie vielleicht auch getan. Aber vor allem brachte sie im Gebet andere Menschen vor Gott mit deren Sorgen und Herausforderungen: Den Sohn, der vor einer Operation stand; die Enkelin, die bald ihr erstes Kind gebären sollte; die Nachbarin, deren Mann kürzlich gestorben war und auch mich, die Pfarrerin, deren Termine sie im Gemeindebrief gelesen hatte. So nahm sie, die das Haus kaum noch verlassen konnte, dennoch Anteil an unserem Leben, und zwar auf sehr mitfühlende und nachdenkliche Art und Weise: indem sie für uns betete.

„Wissen Sie“, sagte sie, „ich kann ja nicht mehr viel tun; nur noch hier sitzen und beten“.

Ich meine: das ist nicht wenig, sondern viel. Für mich jedenfalls war ihr Gebet eine sehr kostbare Gabe. Und ich denke: Vielleicht kann diese Erfahrung auch eine Hilfe sein in unseren Tagen, in denen wir wegen des Corona-Virus den direkten persönlichen Kontakt meiden müssen. Lassen Sie uns als Christenmenschen füreinander beten - leider nicht in der Kirche, aber schon miteinander, z.B. wenn die Glocken unserer Marienkirche läuten. Lassen Sie uns nicht nur, aber auch so in Kontakt bleiben miteinander. Und, wie sagt meine frühere Mesnerin immer am Telefon: Fühlen Sie sich in den Arm genommen!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Mai 2020

von Sabine Werner-Heid, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei den „Orgel-Gedanken“


Meine Mutter war eine sehr kluge Pädagogin.

Obwohl wir als Kinder vor mehr als einem halben Jahrhundert nicht annähernd so viel Spielzeug hatten wie viele Kinder heutzutage, hatte sie zuweilen den Eindruck, dass wir so viel Zeug hätten, dass wir die einzelnen Sachen gar nicht mehr richtig zu würdigen wüssten. Manches, so fand sie, wurde von uns achtlos und lieblos behandelt, das Spiel damit schien langweilig zu sein und keine von uns Schwestern gab sich noch damit ab.

Dann konnte es sein, dass sie einige Plüschtiere und andere Spielsachen einfach wegräumte und so versteckte, dass wir sie nicht mehr fanden.

Das verärgerte uns zwar in dem Moment, aber irgendwann arrangierten wir uns damit, vergaßen es vielleicht sogar….und dann, eines Tages, holte sie das Spielzeug aus seinem Versteck - und siehe da, es war auf einmal etwas ganz Besonderes! Die Freude war groß, das Spielzeug fühlte sich auf einmal wie neu an, als hätte man es noch nie gesehen, und das Spielen damit machte wieder richtig Freude! Wir wussten wieder, was wir daran hatten und erkannten die Möglichkeiten, unser Spiel damit zu bereichern.

Warum ich Ihnen das erzähle?

In diesen Tagen der ersten Lockerungen der strengen Corona-Regelungen habe ich plötzlich dieses Gefühl wieder erlebt:

Dinge, die wir immer für selbstverständlich genommen hatten, wurden uns plötzlich weggenommen, ob wir wollten oder nicht. Zwar keine Spielsachen, aber liebgewordene Gewohnheiten, Aktivitäten, die unser Leben abwechslungsreich machten und bereicherten. Wir nahmen sie in unserem Alltag für selbstverständlich, sie gehörten einfach dazu und waren ganz normal – nichts Besonderes!

  • Sich mit Freundinnen in der Stadt treffen und einen Kaffee trinken.
  • Einem plötzlichen Impuls folgen und etwas einkaufen, was man gerade gerne haben möchte.
  • Verwandte besuchen oder zum Geburtstag einladen.
  • Keine Lust auf Kochen? Kein Problem, dann gehen wir heute eben mal aus zum Essen!
  • Die wöchentliche Chorprobe.
  • Im Verein Sport treiben oder ins Fitness-Studio gehen
  • Verreisen.
  • Einen interessanten Kurs besuchen
  • Jeden Sonntag entscheiden können, ob man in die Kirche zum Gottesdienst gehen möchte oder vielleicht doch lieber ausschlafen.

Alles ging plötzlich nicht mehr! Da erst merkten wir so nach und nach, wie uns diese Dinge fehlten! Wie viel von unserer alltäglichen Lebensqualität sie ausmachten! Wie anstrengend und frustrierend es war, darauf zu verzichten und die Durststrecke durchzuhalten!

Und jetzt geht doch allmählich so manches davon wieder, und ich fühle mich wieder wie als Kind, wenn ein lange nicht mehr auffindbares Spielzeug plötzlich wieder da war:

Es ist etwas ganz Besonderes! Ich wusste ja gar nicht mehr, wie schön es ist, es zu haben!

  • Sich wieder mit wenigstens ein paar Menschen treffen zu dürfen, und von Angesicht zu Angesicht ein bissle schwätzen – es muss gar nichts Weltbewegendes sein, was besprochen wird - nur einfach statt nur am Telefon die Stimme zu hören, auch das Gesicht, die Gestik des Gesprächspartners wieder sehen zu können!
  • In ein Textilgeschäft gehen und so etwas Unspektakuläres wie eine Jeans kaufen.
  • Der ersehnte Friseurbesuch!
  • Am Sonntag zum ersten Mal wieder eine richtige Orgel zu hören, deren Klang den Kirchenraum um mich her füllt und nicht nur aus dem Lautsprecher des Fernsehers ertönt….mit einer Gottesdienstgemeinde zusammen das Vaterunser murmeln….wenn auch nur durch die Schutzmaske ….am Schluss des Gottesdienstes von einem leibhaftigen Pfarrer den Segen zugesprochen bekommen.

Und die Vorfreude empfinden auf die weiteren Spielsachen, die wir hoffentlich auch bald wieder bekommen: den regelmäßigen Sport, die Geburtstagseinladung, irgendwann auch das gemeinsame Singen …

Vielleicht kann uns die Durststrecke der letzten Wochen und die kleinen Lockerungen, die wir jetzt wieder nach und nach erleben, da eine Lektion lehren: die kleinen Dinge des Alltags wieder bewusst als Geschenk zu sehen, nicht für selbstverständlich zu nehmen, bewusst zu genießen, und vielleicht am Abend vor dem Einschlafen im Gebet dafür zu danken!

 

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Mai 2020

von Dr. Christoph Hoffmann-Kuhnt, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den Orgel-Gedanken


Einer der Sonntag nach Ostern trägt den Namen „Rogate“ = Betet! Eine Aufforderung und Einladung zum Zwiegespräch mit Gott. Innehalten ist die Botschaft.  Aus dem Stimmengewirr des Alltags der einen Stimme Gottes lauschen. Wie nun spricht Gott zu uns? Wie beten und sprechen wir mit ihm? Was geschieht beim Beten?

Beim sog. Präsenzdienst hier in der Marienkirche werde ich immer wieder nach Details der Ausstattung gefragt, z. B. der neugotischen Kanzel und ihrem Kanzeldeckel. Dort finden Sie ja typische Jugendstilelemente, allein die Ornamentik und die Engeldarstellungen. Die 7 Engelbüsten tragen folgende Spruchbänder:

Bittet! Höret! Klopfet an! Suchet! Wachet! Glaube nur! Seid Täter!

Alle diese biblischen Imperative gehören zur Sonntagsbezeichnung Rogate und zum Begriff Beten. Der häufig benutzte und lapidare Satz: „Da hilft nur noch beten“ wird fälschlich missverstanden als Hoffnungslosigkeit und Passivität. Ich verstehe ‘Beten‘ anders: als ein aktives Lauschen, Anklopfen, Wachsam-Sein. Und in diesem Hinein-Hören bemerken wir, dass Gottes Stimme verschiedene Ausdrucksformen hat:

Die Sprache der Worte, die wir in der Bibel lesen, die uns zugesprochen werden. Und die Sprache der Symbole, denen wir in Bildern und Figuren begegnen. Denken Sie an die Steinmetzarbeiten am Heiligen Grab, am Taufstein oder an der Empore.

Und dann die Sprache der Musik. Denken Sie an die Kirchenlieder, wo Text und Melodie sich so verbinden, dass wir oft die Verse nicht ohne Melodie hervorbringen können. Oder den Klang der Orgel, die wunderbare Vielfalt der Register, die stimmführenden Melodien oder das Basso continuo im Pedal.

Und dazu die Sprache der Stille, das Innehalten ohne Worte, ohne Ton. Oder besser gesagt: der Nachhall eines Textes, einer Musik. Und das ist ein wesentlicher Teil des Gebets. Das Nach-Hören und Nach-Denken bringt uns zum Nachfolgen, zum Vertrauen darauf, dass Gott unser Gebet annimmt.

„Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet“.
(Ps 66,20)

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, Frühjahr 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Der Blick in den Spiegelgehört für uns alle zum täglichen Ritual. Nach dem Aufstehen im Badezimmer oder bevor wir das Haus verlassen an der Garderobe schauen wir hinein. Meist ist es ein eher flüchtiger Blick. Sind die Haare so, wie ich sie haben möchte? Sitzt die Mütze an der richtigen Stelle? Passen meine Kleidungsstücke zu einander? Wenn nicht, kann ich das korrigieren. Gut, dass es Spiegel gibt. Doch manchmal nehmen wir mehr als nur Äußerliches wahr. Beim Betrachten unseres Spiegelbildes geht der Blick tiefer. Wir fragen uns: Wer bin ich? Bin ich einverstanden mit meinem Leben? Habe ich Frieden mit der Person, die mich als mein Spiegelbild an-schaut? Die Bilanz, die ich dann ziehe, kann so oder so ausfallen. Zufrieden und dankbar oder beunruhigt und zweifelnd oder all dies zugleich. Wie auch immer, vor dem Spiegel sind wir mit uns und unserem Urteil allein. Und das kann manchmal recht hart ausfallen.

Die Schauspielerin Hanna Schygulla sagte einmal: Ich schaue mich nicht mehr selber so oft im Spiegel an; denn die Augen, mit denen man sich selber ansieht, sind nicht die, bei denen man am besten aufgehoben ist. […] Es reicht mir nicht, nur mich im Spiegel zu sehen, ich brauche ein Gegenüber, das mich anschaut. Ganz gewiss denkt Hanna Schygulla dabei zuerst an Menschen aus ihrem Lebensumfeld, an Kolleginnen und Kollegen, an Bekannte, an Menschen aus ihrer Familie, an Freundinnen und Freunde. Zusammengefasst: An Menschen, die ihr am Herzen liegen und denen sie wichtig ist.

Im biblischen Buch der Sprüche heißt es: Wie sich im Wasser das Angesicht spiegelt, so ein Mensch im Herzen des andern. (Spr 27,19) Wir alle kennen bestimmt mindestens einen Menschen, mit dem wir von Herzen verbunden sind. Das ist dann so ein Gegenüber, das mich anschaut – ein Spiegel, bei dem ich besser aufgehoben bin als im Spiegel meiner eigenen Augen. Eine gute Freundin, ein guter Freund schaut mich an mit einem Blick, der wohlwollend ist, der mich wertschätzt; mit einem Blick, der mich annimmt in meinem So-Sein und mich stärkt. Wo mir das Herz eines anderen Menschen ein Spiegel ist, da darf mich dieser Mensch auch ermahnen und zurecht bringen. Er wird es hoffentlich tun, ohne mich kleinzumachen und ohne sich von mir abzuwenden.

Gut, dass es menschliche Spiegel gibt, aus denen uns ein Spiegelbild freundlich ansieht. Doch von einem weiteren An-Sehen ist zu reden. In Psalm 32 heißt es von Gott: Ich will dich mit meinen Augen leiten. Also: Gott will uns mit seinen Augen leiten.

In einer ’Bibel für Schwoba’ – ja, das gibt es tatsächlich –, da heißt dieser Satz: I han a Aog auf de. Das klingt ein wenig nach ’big brother is watching you’. Besser gefallen würde mir: I guck noch dir. Darin steckt so viel: Ich kümmere mich um Dich. Ich bin für Dich da. Ich meine es gut mit Dir. Du kannst Dich auf mich verlassen. I guck noch dir. Ich will dich mit meinen Augen leiten. Gottes Blick auf jeden von uns ist ein Blick der Güte. Nicht in unserem eigenen Urteil über uns, noch nicht einmal in dem, was andere in uns sehen, liegt unser Ansehen begründet. Unser Ansehen und unsere Würde ergeben sich im Blick Gottes. So können wir werden, was wir in Gottes Augen sind, sein Gegenüber. Ich wünsche uns, dass wir dem Blick Gottes trauen, ihn suchen und ihn erwidern. Im Beten z.B. liefern wir uns diesem Blick der Güte aus. Ich schließe mit einem Satz von Teresa von Avila, die auch eine Lehrerin des Gebets ist; sie schreibt: Beten ist Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2020

von Judith Jünger, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei den „Orgel-Gedanken“


Ich hätte nie gedacht, dass mir in meinem Leben ein Kirchenraum so ans Herz wachsen könnte. Vielleicht sogar noch besser „ins Herz wachsen könnte“. Die ganzen Wochen, wo die Marienkirche geschlossen war, habe ich diesen sakralen Raum ganz tief in mir gespürt.

Ich trage so viele Erinnerungen an den Innenraum der Marienkirche in mir, dass meine Seele ganz leichtfüßig darin herumgehen kann. Dabei lebe ich erst seit 15 Jahren in Reutlingen und bin in ganz anderen Kirchenräumen groß geworden. Die kleine fränkische Dorfkirche meiner Kindheit erinnere ich vor allem mit dem aufwändigen Schmuck mit Birkengrün und Papierblumen zu den Konfirmationen. Bei der kleinen markgräflichen Kirche im Nachbardorf fällt mir zuerst das Orgelspiel meiner Mutter ein. Sie hat dort ab und zu ausgeholfen und ich durfte ihr die Noten umblättern. Konfirmiert wurde ich in einer modernen Zeltkirche, von der mir vor allem die kleine Küche in besonderer Erinnerung ist. Dort haben wir beim Abwasch nach dem Osterfrühstück mit dem Pfarrer afrikanische Osterlieder geschmettert. Und im Jugendraum nebenan habe ich meine erste Jugendgruppe erlebt. Große sakrale Bauten haben meine Lebensjahre in Frankreich geprägt. Oft habe ich in der Kathedrale von Saint Denis im Norden von Paris gesessen und den Raum und das Licht auf mich wirken lassen. In der Abteikirche von Fécamp in der Normandie kann ich mich genau an meine Rundgänge durch dieses Bauwerk erinnern, an die Sichtachsen, das Moos auf den Wänden, die wunderbaren Konzerte, die ich dort gehört habe. Und nun gehört seit 15 Jahren eine neue Kirche in mein Leben – die Marienkirche in Reutlingen. Zahlreiche Taizégottesdienste im Chorraum mit dem Blick auf das wunderbare Altarkreuz und die Rosette an der Stirnseite sind tief in meinem Gedächtnis abgespeichert. Viele Osternächte sind in meinem Herzen ganz präsent – mit dem Osterlicht, das die dunkle volle Kirche nach und nach erhellt. Danach das obligatorische Osterfrühstück mit dem traditionellen Eierditschen – zumindest in unserer Familie: „Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden“. Leicht übermüdet ging es nach einer kurzen Pause zu Hause in den anschließenden Osterfamiliengottesdienst, wo die Kinder im Chor sangen und das übermütige Ostereiersuchen denselben Kirchenraum innerhalb von wenigen Stunden völlig anders erleben ließen.

Die verschlossenen Kirchen zu Ostern waren schmerzhaft, aber ich merke, dass ich die Botschaft dieses Raumes in mir trage. Ich konnte mir zunächst nicht vorstellen, einen Text für die Orgelgedanken zu schreiben, wenn sie real gar nicht stattfinden. Aber nun, wo ich nachts vor meinem Computer sitze und diese Zeilen schreibe, trägt mich das innere Bild dieses Kirchenraumes. Mit meinem Körper, meiner Stimme, meinen Gedanken, meiner Seele bin ich ein Teil davon und diese Kirche ist ein Teil von mir. Ich sehe mich mit Einkaufstaschen oder leichtem Gepäck kurz vor 12 Uhr in die Kirche kommen, den handgeschriebenen Zettel mit den Orgelstücken entgegennehmen. Ich sitze immer in der ersten Reihe und warte auf das Läuten der Glocken und das Einsetzen des Orgelspiels. Erst wenn ich nach dem Verklingen des letzten Tons aufstehe, nehme ich wahr, wie viele Menschen in der Kirche sind – und bin oft erstaunt. Mittlerweile kenne ich den Klang meiner Stimme in dieser großen Kirche und nehme mich trotzdem ganz bewusst wahr, wenn ich am Mikrofon stehe. Ich bin dankbar, dass ich bei den Orgelgedanken kleine Texte, die auf unterschiedlichste Weise den Weg zu mir gefunden haben, weitergeben darf. Ab und zu finde ich die Zeit, selbst etwas zu schreiben. Das zweite Orgelstück erlebe ich oft als kurze, tiefe Meditation. Zum Abschied sage ich immer: Schön, dass Sie sich Zeit genommen haben, hier zu sein. Und ich freue mich, in Gesichter von Menschen zu blicken, die diese kurze Auszeit aus dem Alltag bewusst wahrgenommen haben.

Diesmal schreibe ich: Schön, dass Sie sich Zeit genommen haben, diesen Text zu lesen und in Gedanken mit mir bei den Orgelgedanken zu sein. Ich kann Ihre Gesichter nicht sehen, aber ich freue mich, Sie in nicht allzu langer Zeit wieder zu treffen. Alles Gute für Sie und bleiben Sie behütet.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2020

von Dr. Christoph Hoffmann-Kuhnt, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den Orgel-Gedanken

Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. (
aus Lukas 24)

Plastisch dargestellt ist dieses Ostergeschehen am sogenannten Heiligen Grab im Chorraum unserer Marienkirche: an einem leeren Sargtrog stehen Johannes und die drei Marien (Marias), wie bei Markus 16 berichtet. Sie sind gekleidet wie Bürger am Ende des 15.Jhs hier in Reutlingen. Davor die schlafenden Wächter mit Lanze und Arkebuse (eine Art Gewehr), darüber in einer eigenen Nische der Auferstandene mit leuchtend rotem Gewand und der Osterfahne. Und weiter oben die Halbbüsten von Propheten des Alten Testaments. Bildlich fährt Jesus auf zu den Vätern seines Glaubens in das Reich der Verheißung.

Eine großartige Steinmetzarbeit, ohne Datum oder Herkunftsbezeichnung, vermutlich aus der gleichen Bauhütte, wie der Taufstein, bei dem wir das Datum der Aufstellung 1499 finden - also beides aus vor-reformatorischer Zeit.

Gerne wüsste ich, wie der Reutlinger Reformator Matthäus Alber damals diese Darstellung (etwa 25 Jahre nach Aufstellung) gesehen hat. Zeigt sie die Erhöhung Jesu? Hilft sie die Auferstehung Jesu zu verstehen? Mich beschäftigt dabei das Größenverhältnis der Figuren – Christus ist nur halb so groß wie Johannes!  Wird mit solch perspektivischen Verkleinerung die Himmelfahrt angedeutet? Je weiter eine Figur vom Betrachter entfernt ist, desto kleiner wird sie. Also Christus wird „erhöht“, wie es in älteren Texten heißt.

Mit dem Verstand ist das Ostergeschehen ja nur schwer zu fassen. Viele sagen „ich glaube nur, was ich sehe, was ich begreifen kann; nur das hat Bestand“. Auch die Jünger konnten die Auferstehung Jesu zunächst nicht fassen. Denken Sie an Thomas, er will Jesus Wunden berühren, um zu verstehen. Und wir hätten heute gerne ein Beweisfoto. Es ist aber eine Angelegenheit des Glaubens, eine zentrale Aussage unseres christlichen Bekenntnisses. Hilft uns die Darstellung des Heiligen Grabes?

Der erste Sonntag nach Ostern trägt die alte Bezeichnung „Quasimodogeniti“ - zu deutsch: wie die neugeborenen Kinder, also unbefangen und voller Urvertrauen, geborgen im Arm der Mutter. Gerne wird an diesem Sonntag über den zweifelnden Thomas gepredigt, der den Auferstandenen berühren wollte. Und er bekommt die Antwort: „selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Es geht also um die unsichtbare Gemeinschaft mit Christus und um das kindliche Vertrauen, mit dem wir Anteil bekommen an Jesu neuem Leben.

Mir jedenfalls hat die Darstellung des Heiligen Grabes die Augen geöffnet für das Oster-geschehen und die Zusammenhänge prophetischer Aussagen im Alten Testament, auf die sich Jesus immer wieder beruft. Und so überwindet Gott den Tod mit neuem, ewigem Leben.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2020

von Dr. Christoph Hoffmann-Kuhnt, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den Orgel-Gedanken


Wir befinden uns mitten in der Karwoche, auch „stille Woche“ genannt. Es ist im Kirchenjahr die letzte Woche der Fasten- oder Passionszeit in der wir Jesu Tod nachspüren. Stille Woche deshalb, weil früher die Orgel in der Kirche schwieg, auch in „normalen“ Jahren keine öffentlichen Festlichkeiten oder Tanzveranstaltungen stattfanden. Heute beschränkt sich das meist auf den Karfreitag.

Zwei Worte werden Sie in diesen Tagen besonders begleiten: „Für dich!“:

Z.B. zusammen mit einem bunten Primel-Körbchen als Ostergruß oder einer selbst gemalten Grußkarte der Enkelkinder - „Für dich!“ Da ist dann alles drin enthalten in diesen Worten: die Freude darüber, etwas selbst ausgedacht und gemalt zu haben; die Spannung auch, ob es gut ankommt; und die Erwartung, dass es geschätzt und gewürdigt wird.

„Für dich!“ Wann haben Sie zum letzten Mal diese Worte gesagt bekommen oder sie selber gebraucht? Ich meine, gesagt und gebraucht in diesem guten Sinn, bei dem es überflüssig ist, mit noch weiteren Worten das Warum oder Wozu zu begründen? Wo wirklich alles in diesen zwei Worten enthalten ist und sie nur eines deutlich machen wollen: Du bist mir wichtig, du liegst mir am Herzen und dir will ich etwas Gutes tun!

Wir hören diese zwei Worte „für dich“ auch beim Abendmahl. Wir stehen – hoffentlich bald wieder – im Halbkreis am Altar, die Hostie oder ein Stück Brot wird uns gegeben mit den Worten „Der Leib Christi, für dich gegeben!“ Und es wird der Kelch gereicht, und wir hören: „Das Blut Christi, für dich vergossen!“ Diese Worte sprechen vom Leidensweg Jesu. Wir erkennen in diesem Leidensweg eine besondere Zuwendung Gottes an uns. Es sind persönliche Worte, und sie gelten dem, der sich von Gott einladen lässt.

Diese Karwoche hat den Ruf einer bedrückenden und kargen Zeit. Sie hören den Gleichklang? das althochdeutsche Wort „kara“ steht für Klage, Kummer, Trauer. Vermutlich wirkt darin noch das kirchliche Zwangsfasten früherer Jahre nach, das Tragen schwarzer Kleidung und die Ablehnung fröhlicher Gemeinschaft. In vielen katholischen Kirchen wird der Altar mit violetten Tüchern verhängt, als sichtbares Symbol der Trauer.

Mir ist diese „stille Woche“ eine Hilfe, weil ich sie jedes Jahr von neuem als Chance wahrnehme, dem Weg Jesu nachzuspüren, an dessen Ziel das Kreuz von Karfreitag und das leere Grab steht mit der unsichtbaren Schrift darüber geschrieben: ‘Für dich!‘ - zwei wohltuende Worte, die die Vergebung der Schuld und neues, von Gott geschenktes Leben verheißen. Insofern - weniger Trauer, als vielmehr tiefe Dankbarkeit für diese zwei Worte: ‘Für dich!‘

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, April 2020

von Annette Bachofer, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei den „Orgel-Gedanken“


Wir sind nun fast am Ende der Passionszeit angekommen. Passions- Leidenszeit Jesu bis zum Tod am Kreuz. Dieses Jahr sind wir nicht nur aufgerufen, so wie sonst immer, das Leiden Christi zu bedenken, mitzugehen in Gebeten, Liedern, Andachten, auch mit Fasten und Verzicht als Zeichen der inneren Einkehr, nein, dieses Jahr wird uns allen ohne unser Zutun eine Zeit des Leidens, der Einschränkung, der Angst und Traurigkeit auferlegt, und wir müssen sie durchstehen, ob wir wollen oder nicht.

Unsere so sehr geschätzte individuelle Freiheit, unsere Sicherheit, unser mehr oder weniger bequemes, ungebundenes Leben - alles ist ganz plötzlich unterbrochen worden. Angst, Hilflosigkeit, Ungewissheit, Krankheit und äußere Not beherrschen die meisten Menschen. Ein Ende ist nicht abzusehen und auch nicht, wie es danach weitergehen wird.

In dieser unserer eigenen Passionszeit schauen wir auf Jesus. Wie hat er sein Leiden ertragen? Bei Matthäus lesen wir: Jesus ging in den Garten Gethsemane, um zu beten. Seine Seele war zu Tode betrübt und er fing an, zu trauern und zu verzagen. Angst und Traurigkeit wollten ihn überwinden. Er betete zu Gott: „Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen“. Jesus hat mit Gott gesprochen und hat ihn angefleht, ob der bittere Tod ihm nicht doch erspart werden könne. Er war ja auch ein Mensch und hatte Todesangst vor dem Sterben am Kreuz.

Auch wir dürfen und sollen in unserer Not Gott anflehen, dass wir diese Leidenszeit überstehen, dass wir nicht schwer krank werden oder sogar sterben müssen. Und auch, dass nicht unsere ganze Existenz einbricht und wir in Not und Elend kommen. Jesus betet aber noch weiter: „aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Jesus wendet sich in höchster Not an seinen Vater, aber er ergibt sich dabei in Gottes Willen und vertraut darauf, dass er ihn hört und dass am Ende alles gut wird.

Wir wollen uns hier nicht weiter mit Jesus vergleichen, aber sein Beten und Flehen gilt auch für uns: Gott um Hilfe bitten, um Rettung aus Angst und Verzweiflung, um Gesundheit und die Kraft, unsere Zukunft zu bewältigen und ein zufriedenes und dankbares Leben führen zu können. Doch auch den Schluss des Gebetes dürfen wir nicht vergessen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Gott hat die Bitte Jesu nicht erfüllt, der Tod am Kreuz musste sein. Aber er blieb nicht der letzte Akt in Gottes Plan. Nach Karfreitag kam und kommt Ostern, Auferstehung, Sieg über Tod und Grab am Ende ewiges Leben bei Gott. Zum Schluss der Passionszeit singen wir: „Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben.“ Und wenn die Virusepidemie hoffentlich bald überstanden ist, werden wir singen: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für“.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“,  März 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


„Zuversicht! Sieben Wochen ohne Pessimismus“ – so heißt das Motto der diesjährigen Fastenaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es ist auch überall dort ein gutes Motto, wo es um die Sehnsucht nach Frieden und um den Einsatz für den Frieden geht. Sieben Wochen ohne Pessimismus, ja gut, aber was dann? Angesichts der Krisen und Bedrohungen ist ganz gewiss kein blauäugiger Optimismus angebracht. Pessimismus und Optimismus, beide -ismen helfen nicht in so komplexen Problemen wie dem Kampf gegen das Corona-Virus, bei der humanitären Hilfe für die geflüchteten Menschen an den Grenzen Europas und der politischen Befriedung Syriens, auch nicht bei der Gefahrenabwehr in unserer Demokratie und dem Eindämmen des Hasses, der jüdischen und farbigen Mitbürgern auf der Straße und in Fußballstadien entgegenschlägt. Diese Liste des Schreckens und Unfriedens ließe sich leicht noch verlängern. „Zuversicht! Sieben Wochen ohne Pessimismus“.

Zuversicht also. Der Duden beschreibt Zuversicht als festes Vertrauen auf eine positive Entwicklung in der Zukunft, auf die Erfüllung bestimmter Wünsche und Hoffnungen. Mich erinnert das sehr an einen Satz im letzten Abschnitt des Hebräerbriefes (11,1): Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Wenn wir die Beschreibung aus dem Duden in den Satz aus dem Hebräerbrief einsetzen, dann ergibt sich: Es ist aber der Glaube ein [festes Vertrauen auf eine positive Entwicklung in der Zukunft, auf die Erfüllung bestimmter Wünsche und Hoffnungen], auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.

Der zuversichtliche Glaube ist damit eine Kraft, die mehr zu behaupten wagt, als es der Anschein zeigt. Der zuversichtliche Glaube versetzt uns in die Lage, mehr zu sagen, als es das eigene Herz von sich aus könnte. Der zuversichtliche Glaube hält daran fest, dass eines Tages die Lahmen gehen, die Blinden sehen und die Gefangenen befreit sein werden. Im Auftaktgottesdienst zur Fastenaktion wurde die Geschichte von der Stillung des Sturms auf dem See Genezareth erzählt. Die Jünger rudern mit dem schlafenden Jesus im Boot ans andere Ufer. Dann erhebt sich ein Sturm und der See wird zu bedrohlich hohen Wellen aufgepeitscht. Die Jünger tun im Sturm das, was sie gut können; es sind ja Fischer darunter, rudern können die. Es ist gut und notwendig, dass sie diese ihre Gabe einsetzen, sonst würde das Boot augenblicklich kentern. Aber sie kommen an ihre Grenzen. Rudernd, was das Zeug hält, wenden sie sich an Jesus, genauer gesagt, sie schreien nach ihm. Sich an Jesus wenden, auch wenn es schreiend geschieht, das nennen wir heute beten. Und so zeigen die Jünger damals im Boot, was auch wir heute tun können, wenn wir uns für den Frieden, die Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen wollen: Rudern, was das Zeug hält, und intensiv beten. Anders gesagt: Unsere Gaben tatkräftig für die Menschen einbringen und unser Gebet nachdrücklich vor Gott bringen, am besten beides ineinander. Martin Luther sagte einmal: Man muss beten, als ob alles Arbeiten nichts nützt, und arbeiten, als ob alles Beten nichts nützt. Wo wir das fertigbringen, da hat das Fastenaktionsmotto seinen Platz: „Zuversicht! Sieben Wochen ohne Pessimismus“.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, März 2020

von Sabine Werner-Heid, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei den „Orgel-Gedanken“

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter – sie passiert heute noch genauso wie zu biblischen Zeiten.

In einem Gruppenchat in meinem Freundeskreis erzählte eine Bekannte ein Erlebnis, das sie kürzlich auf dem Heimweg von der Arbeit hatte. Eines Abends nach Feierabend war sie auf dem Weg vom Betrieb zu ihrem geparkten Wagen, durch eine stille, schon dunkle Straße. Da kam ein Mann auf sie zu, leicht stolpernd und schwankend, und obwohl sie es in der dunklen Straße kaum erkennen konnte, war sie sich ziemlich sicher, dass er dunkelhäutig war und die Art von leicht angeberischer Kleidung anhatte, wie sie junge Flüchtlinge gerne tragen. Sie versuchte, ihm auszuweichen, aber auch er änderte seine Richtung und kam direkt auf sie zu. Als er nahe genug war, rief er: „Hey, hallo Sie, können Sie mir sagen, wo es zum Bahnhof geht?“ Sie fühlte sich sehr unsicher und nervös - war das vielleicht nur eine billige Masche der Anmache? Und offensichtlich betrunken war er ja auch noch ... Sie schaute ihn sich vorsichtig näher an – er konnte wirklich nicht gerade stehen, aber er sprach ganz klar. „Ich…ich bin ein bisschen betrunken“, sagte er, „und deshalb finde ich den Weg zum Bahnhof nicht mehr – wenn Sie mir einfach sagen könnten, wo ich langgehen muss, das wäre super!“ Er kam noch etwas näher, und sie schaute in sein Gesicht, das fast noch kindliche Gesicht eines sehr jungen Mannes. Ja, er war dunkelhäutig, und er sprach absolut akzentfreies Deutsch. „Ich weiß wo es zum Bahnhof geht“ sagte sie und überlegte, wie sie es einer so offensichtlich verwirrten Person am besten erklären könnte. Er redete und redete und erklärte ihr, dass er unheimlich dankbar wäre, wenn sie ihm helfen würde – er hätte ganz bestimmt keine bösen Absichten, und es täte ihm wirklich leid, dass er sie in so einem Zustand anspreche, aber er hätte sich einfach verirrt und brauche ihre Hilfe. Sie überlegte ganz kurz, dann traf sie ihre Entscheidung, grinste ihn an und sagte: „Also wenn Sie zu betrunken sind, um geradeaus zu laufen, und zu betrunken, um den Weg zum Bahnhof zu finden, dann sind Sie auch zu betrunken, um mir was anzutun – warum gehen wir nicht einfach zusammen zu meinem Auto und ich fahre Sie schnell hin?“ Auf dem Weg zum Auto gestand er ihr, dass er verschiedene Drogen zu sich genommen hatte, aber er versicherte ihr, dass er ein netter Mensch wäre und nicht etwa aggressiv werde, wenn er etwas genommen hätte, und irgendwie glaubte sie es ihm. Er war unheimlich dankbar für ihre Hilfe, und sie kamen in ein nettes Gespräch. Er fragte sie Dinge, die er sicher normalerweise eine völlig Fremde nicht gefragt hätte, zum Beispiel wie alt sie wäre und was ihr Job wäre, und ob sie schon jemals betrunken gewesen wäre. Er war beeindruckt, als sie ihm erzählte, dass sie noch nie im Leben Drogen genommen hätte, und sagte, das solle sie auch unbedingt weiterhin sein lassen! Als sie sich am Bahnhof verabschiedeten, wünschte er ihr ein wunderbares Leben.

Bleibt noch anzumerken, dass meiner Bekannten die offensichtliche Parallele zur Geschichte vom barmherzigen Samariter gar nicht wichtig war – es war ihr fast ein wenig peinlich, als jemand sie darauf aufmerksam machte. Sie wollte eigentlich nur verdeutlichen, was für überraschende kleine Erlebnisse der Alltag einem ab und zu beschert, wenn man über seinen Schatten springt und unkonventionell handelt.

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, März 2020

von Manfred Häußler, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei den „Orgel-Gedanken“


Kennen Sie das auch? Unter allen Tassen, die Sie im Schrank haben, ist die eine oder andere, die eine Macke oder einen Sprung hat? Wenn Besuch kommt, bleibt sie im Schrank. Aber immer mal wieder gerät sie Ihnen in die Hände, wenn Sie für sich einen Tee oder Kaffee machen. Vielleicht ist es sogar Ihre Lieblingstasse. Darum können Sie sich – trotz der Macke – von dieser Tasse nicht trennen. Wegscheißen, nur weil sie nicht mehr unversehrt und perfekt ist? Kommt gar nicht in Frage!

Ich möchte auch nicht einfach weggeschmissen werden, nur weil ich einen ’Sprung’ habe. Wer von uns kann schon behaupten, ohne Verletzungen durch’s Leben zu gehen? Es ist ein rasch vergehender Traum der Kinderzeit, dass immer alles glatt geht, dass die Wege, die man privat und beruflich geht, geradlinig sind. Neben allem Schönen und Beständigen gibt es – unverhofft kommt oft – leider auch Brüche und Verwerfungen, die im Leben Macken und Sprünge hinterlassen.

In Japan gibt es eine Kunst, die Kintsugi genannt wird, übersetzt ’Goldreparatur’. Wenn eine wertvolle Keramikschale in Scherben zerbricht, wird sie wieder zusammengefügt.

Nicht ohne sichtbare Risse, das wäre ja unmöglich. Aber: Die Bruchstellen werden nicht nur mit besonderem Kitt und Lack geflickt, sondern auch mit Goldstaub. So wirken die Brüche besonders kostbar, das ganze Gefäß ist neu und anders, es glänzt sogar. Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin gebrochen, an verschiedenen Stellen. Ich habe vieles überstanden. Es hat Mühe und Zeit gekostet, wieder ganz zu werden, wieder neu gefüllt werden zu können. Aber genau das macht mich einzigartig. (Quelle: Iris Macke, Der Andere Advent 2017/18, zum 2.12.)

Wo gibt es einen Künstler, ein Meister müsste er schon sein, der auf solche Weise mich und mein Leben in die Hand nimmt, der es sich Mühe und Zeit kosten lässt, mich heil und ganz zu machen? Gibt es so jemand? Im 17. Jahrhundert sagte der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal: „Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen“. Er gibt die Antwort: Gott will mit den Bruchstücken unseres Lebens umgehen. Er ist der Goldreparateur. Und das heißt ja auch: Gott legt uns nicht beiseite, er wirft uns nicht weg, wenn nicht alles unversehrt und perfekt ist. Es ist ein beruhigender Gedanke, bei Gott nicht mackenfrei und makellos sein zu müssen. Ich muss nicht wie das ’gute Geschirr’ sein, denn Gott ist nicht nur zu Besuch bei mir. Er beseitigt auch nicht die rissigen Spuren, die das Leben hinterlässt, schon gar nicht rückstandsfrei. Wie beim Kintsugi kittet er sie mit Goldstaub. So wirken die Brüche besonders kostbar, das ganze Gefäß – hier: der ganze Mensch – ist neu und anders. Im Rückblick auf unser Leben erkennen wir tatsächlich manchmal, dass gerade die Sprünge und Brüche dem Leben seine besondere Gestalt geben. Wir merken, dass wir an dem gewachsen sind, was uns zunächst widerwärtig schien, was uns lähmte, zweifeln oder gar verzweifeln ließ.

Ich wünsche uns allen, dass wir sagen können: Ich bin zwar gebrochen, an verschiedenen Stellen. Ich habe vieles überstanden. Es hat Mühe und Zeit gekostet, wieder ganz zu werden, wieder neu gefüllt werden zu können. Aber genau das macht mich einzigartig. Gott sei Dank!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, März 2020

von Pfarrerin Sabine Großhennig


An der kleinen Kirche meiner früheren Pfarrstelle haben sich vor etlichen Jahren Jugendliche einen originellen, allerdings gefährlichen Mai-Scherz einfallen lassen. Sie sind mitten in der Nacht mit einer Leiter auf das Kirchendach geklettert. Von dort aus konnten sie den kleinen, offenen Turm erreichen. Und dort haben sie die Klöppel der Glocken mit dicken Tüchern umwickelt.
Am nächsten Morgen wusste fast jeder im Dorf davon. Nicht, weil die Jugendlichen damit geprahlt hätten – das taten sie wohlweislich nur im kleinen Kreis. Nein, den Leuten fiel einfach auf, dass die Glocken nicht läuteten.

Ich denke, das geht vielen so: Egal ob sie sich nun der Kirche zugehörig fühlen oder nicht, der Klang der Glocken gehört einfach dazu – am Sonntag aber auch an Werktagen.

Auf dem Dorf hat das sicher noch eine größere Bedeutung. Im Nachbarort zum Beispiel läutete die Mesnerin die Sterbeglocke, sobald sie vom Tod eines Menschen erfuhr. Oder beim Mittagsläuten beeilten die Schulkinder sich, ihren Bus zu erreichen. Ganz selbstverständlich halfen die Glocken, den Alltag zu strukturieren.

Aber auch in der Stadt kommt es vor, dass Menschen bewusst oder ganz nebenbei den Klang der Glocken wahrnehmen. Ich denke da zum Beispiel an eine Frau, die im Krankenhaus nächtelang wach lag, weil sie Schmerzen hatte und ihr so viele Nachtgedanken durch den Kopf gingen. „Wenn ich nicht wenigstens am Stundenschlag der Glocken gemerkt hätte, dass auch diese lange Nacht allmählich zu Ende geht, wäre ich verrückt geworden“, hat sie gesagt. Erfreulicher ist es, wenn am Sonntagmorgen die Glocken so eine Art „Sonntagsgefühl“ wecken- auch, wenn man sie nur im Halbschlaf hört und sich nochmal auf die andere Seite drehen kann. Man weiß ja: es ist Sonntag.

Sicher, manche Leute ärgern sich auch über das Geläut und fühlen sich davon gestört. In vielen Orten ist es deshalb immer mehr aus dem Alltag verdrängt worden. Das finde ich schade. Obwohl ich auch neben einer Kirche wohne, würde ich ungern auf den Klang der Glocken verzichten. Ich mag es als Alltagsgeräusch, das mir ganz nebenbei anzeigt, „was die Stunde geschlagen hat“. Und ich mag es, wenn mich die Glocken am Sonntagmorgen daran erinnern, dass die Woche nicht nur Werktage hat.

In diesen Wochen nun, in denen wir, um das Ansteckungsrisiko klein zu halten, körperlich Abstand halten müssen voneinander, können auch die Glocken eine größere Bedeutung haben als sonst: Neben persönlichen Anrufen, Mail-Kontakten oder so, die jetzt ganz wichtig sind, können sie viele Menschen unserer Stadt gleichzeitig erreichen. Die Glocken unserer Marienkirche etwa läuten, wie die anderen Kirchen, zu den üblichen Gebetszeiten am Morgen, Mittag und Abend. Und auch am Sonntagmorgen läutet die Betglocke weiterhin um 10 Uhr. Sie kann uns nun nicht zum Gottesdienst zusammenrufen. Aber sie kann uns einladen, in diesen schwierigen Zeiten füreinander und miteinander zu beten. Und ganz nebenbei erinnert der Stundenschlag daran, dass auch diese Zeit nicht für immer dauern wird.

Gott behüte sie!

„Gruß aus der Marienkirche Reutlingen“, März 2020

von Pfarrerin Sabine Großhennig


„Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen.“ Dieser Vers aus dem 91. Psalm ist bei uns der beliebteste von allen Taufsprüchen. Viele Eltern suchen für die Taufe ihrer Kinder dieses Bibelwort aus und bitten so darum, dass Gott sie bewahren möge auf ihrem Lebensweg. Mich erinnert dieser Psalmvers an den Engel auf unserer Marienkirche und an alte Schutzengel-Bilder. Auf ihnen ist ein Kind zu sehen, das geradewegs auf einen tiefen Abgrund zuläuft oder gar darüber balancieren will. Aber hinter ihm steht ein schöner großer Schutzengel mit ausgebreiteten Flügeln. Er fasst das Kind am Rockzipfel und bewahrt es vor der Gefahr. Ich kann gut nachvollziehen, dass Eltern sich das für ihre Kinder wünschen, dass sie so vor allen Abgründen des Lebens bewahrt werden mögen. Denn Eltern, überhaupt wir Erwachsenen wissen ja nur zu gut, wie viele Gefahren es im Leben gibt, wie viele Dinge einem Angst machen können. Und da tut es mir gut zu hören, dass Gott uns mit den Gefahren des Lebens nicht alleine lassen will.

Aber – wir Erwachsenen wissen eben auch, dass Gott uns nicht alle Gefahren, alle Angst und auch nicht alle Abgründe des Lebens erspart. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. In manchen Zeiten wünschte ich mir mehr Hilfe und Unterstützung. Und es gibt Situationen im Leben, da frage ich mich: Wo sind sie denn geblieben, Gottes Engel, die mich oder andere Menschen behüten und bewahren sollen? Zum Beispiel, wenn ich mit einer Familie die über den Tod ihres Sohnes oder ihrer Tochter, von Mutter oder Vater sprechen muss. Wenn die Familie dann fragt: Warum? Warum er, warum sie? Und warum hat Gott das nicht verhindert? Dann wünsche ich mir sehr, ich hätte eine einfache, klare und womöglich tröstliche Antwort. Aber die habe ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum das Leben uns manchmal soviel Schmerzen und Angst zumutet. Ich weiß auch nicht, warum Gott das Leben nicht einfach ideal und ohne Schmerzen eingerichtet hat. Ich weiß nur, wie Sie auch, dass unser Leben eben eine Mischung ist aus schönen und aus schweren Zeiten. Dass manchmal auf unverdientes großes Glück auch ebenso unverdientes großes Leid folgen kann. Und Gott regelt weder das eine noch das andere für uns.

Meiner Erfahrung nach beseitigt Gott weder die Abgründe noch die Hindernisse auf den Wegen des Lebens. Aber meine Erfahrung ist auch, dass Gott gerade in den abgründigen Zeiten des Lebens eine ganz besondere Art hat, bei mir, bei uns zu sein. Dass er mir Kraft gegeben hat, als ich erschöpft war und neue Hoffnung, als ich nicht mehr weiterwusste. Und deshalb vertraue ich dem alten Psalmgebet, das sagt: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen“.

Und das wünsche ich Ihnen auch!